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Vergabe zur Massenentsäuerung ungenau

Gericht: Bundeskartellamt Bonn

Entscheidungsdatum: 10.11.2014

Aktenzeichen: VK 1 – 88/14 [1]

Entscheidungsart: Beschluss

eigenes Abstract: In einem Vergabeverfahren zur Ausschreibung eines Auftrags zur Massenentsäuerung ca. 170.000 kg Bücher, rügt eine Firma, die ein Angebot abgegeben hat, aber den Zuschlag nicht erteilt bekommen hat, die Zuschlagskriterien. Einerseits vermische das Kriterium „Workflow/Projektkonzept“ in unzulässiger Weise Eignungs- und Wertungsaspekte, andererseits sei die erfolgte Angebotswertung in den Kriterien „Qualität“ und „Preis“ intransparent und vergaberechtswidrig. Auch wurden diese nicht hinreichend konkretisiert. Das Gericht erklärt in diesem Beschluss, dass der Nachprüfungsantrag zulässig und begründet ist und verpflichtet die Antragsgegnerin, den Zuschlag nicht zu erteilen und das Vergabeverfahren neu zu starten.

Tenor

1. Der Antragsgegnerin wird untersagt, den Zuschlag zu erteilen. Für den Fall fortbestehender Beschaffungsabsicht hat die Antragsgegnerin das Vergabeverfahren in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen, die Vergabeunterlagen unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu überarbeiten, den Bietern erneut zu übersenden und Gelegenheit zur Angebotsabgabe zu geben.

2. Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kosten (Gebühren und Auslagen) des Verfahrens als Gesamtschuldner sowie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin je zur Hälfte.

3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin war notwendig.

Gründe

Die Antragsgegnerin (Ag) schrieb im offenen Verfahren („öffentliche Ausschreibung“) die Vergabe „Ausschreibung Nr. [… ] – Massenentsäuerung“ mit nationaler Bekanntmachung [… ] aus.

Gegenstand der Ausschreibung ist zum einen die Massenentsäuerung von ca. 170.000 kg entsäuerbarem Bibliotheksgut; ein Anspruch auf eine bestimmte Menge von zu bearbeitendem Bibliotheksgut soll seitens des Auftragnehmers nicht bestehen (vgl. Ziffer 1.2 der Leistungsbeschreibung). Zum anderen sind als sog. optionale Leistungen der Transport der Materialien von und zur Ag, das Ausheben und die Selektion der zur Behandlung vorgesehenen Objekte sowie die diesbezügliche Datenerfassung, die Reinigung der zur Behandlung vorgesehenen Objekte und das Zusammenführen behandelter und von der Behandlung ausgeschlossener Materialien einschließlich sortierter Rücklieferung ausgeschrieben; eine Verpflichtung zur Abnahme dieser Leistungen soll nicht bestehen (vgl. Ziffer 4 der Leistungsbeschreibung). Ausgangspunkt sind gemäß Ziffer 1.2 der Leistungsbeschreibung ca. 220.000 kg Bibliotheksgut.

In Vorbereitung der Ausschreibung wurde von der betroffenen Fachabteilung der Ag im „Fragebogen Bedarfsbeschreibung“ unter anderem Folgendes zu den Zuschlagskriterien (unter Ziffer 4) festgehalten:

„Preis 40 %

Qualität 40 %

Setzt sich zusammen aus:

Alkalischer Reserve in Verfahrenskontrolle 12 %

(…)

Gleichmäßigkeit der alk. Reserve 8 %

Extrakt-pH aus Verfahrenskontrolle 8 %

Nebenwirkungen nach Eigenerklärung 6 %

Oberflächen-pH aus Verfahrenskontrolle 4 %

Bruchkraft in Verfahrenskontrolle 2 %

Projektkonzept 20 %

Setzt sich zusammen aus:

Firmen-, Team- und Verfahrensvorstellung 6 %

Darstellung der Arbeitsabläufe 6 %

Risikomanagement 6 %

Formale Kriterien 2 %“

Gemäß Ziffer 3.1 der Aufforderung zur Angebotsabgabe sind dementsprechend als Zuschlagskriterien die Kriterien „Qualität“ (mit einer Gewichtung von 40%), Preis (Gewichtung: 40%) und „Workflow/Projektkonzept“ (Gewichtung: 20%) bestimmt worden; weitere mögliche Unterkriterien oder -gewichtungen werden in den Vergabeunterlagen nicht genannt. In Anlage 6 („Liste der gemäß § 8 Abs. 3 VOL/A beizufügenden Unterlagen“) ist zum von den Bietern beizufügenden Projektkonzept unter anderem Folgendes ausgeführt:

„Projektkonzept, welches die Herangehensweise an die gestellten Anforderungen zur Leistungserbringung darstellt; das Konzept sollte einen Umfang von 10 DIN A4 Seiten nicht überschreiten und folgende Informationen enthalten:

eine Firmendarstellung, die u.a. nähere Informationen über das Leistungsspektrum, die technische Ausstattung und die zur Verfügung stehenden Kapazitäten des Bieters liefert.

die Vorstellung des zur Verfügung stehenden Teams (benannte Ansprechpartner zzgl. der ggf. weiteren Mitarbeiter, die konkret an der Leistungserbringung beteiligt sind – jeweils inkl. Angabe der Qualifikationen aller Beteiligten). An der Leistungserbringung sollte mindestens ein auf Papier spezialisierter Restaurator/in (Studienabschluss oder durch langjährige Berufserfahrung erworbene, vergleichbare Qualifikation) beteiligt sein.

In der Leistungsbeschreibung finden sich an verschiedenen Stellen Ausführungen zu Qualitätsanforderungen an die Massenentsäuerung. So hat das angebotene Entsäuerungsverfahren z.B. nach Ziffer 2.1 der Leistungsbeschreibung die in der entsprechenden DIN-Empfehlung („Empfehlung zur Prüfung des Behandlungserfolges von Entsäuerungsverfahren für säurehaltige Druck- und Schreibpapiere“) beschriebenen Verfahrens- und Routinekontrollen zu erfüllen. Unter Ziffer 3 („Qualitätsvereinbarungen“) der Leistungsbeschreibung sind in den Unterabschnitten 3.1 („Technische Anforderungen und Durchführung“), 3.2 („Forderungen zu Neben- und Langzeitwirkungen“) und 3.3 („Zusatzforderungen“) konkrete qualitative Vorgaben zur Auftragsdurchführung aufgeführt. Insbesondere unter Ziffer 3.1 wird verschiedentlich auf nach der DIN-Empfehlung einzuhaltende Werte (z.B. pH-Wert, alkalische Reserve) und den im Rahmen des sog. KUR-Projekts erarbeiteten Richtwert für die alkalische Reserve verwiesen.

Gemäß Anlage 6 der Vergabeunterlagen hatten die Bieter unter anderem mit ihrem Angebot auch eine Eigenerklärung zur Erfüllung der Vorgaben und Richtwerte der fraglichen DIN-Empfehlung sowie als Nachweis die Ergebnisse der letzten Verfahrenskontrolle und der letzten 20 Routinekontrollen einzureichen.

Gemäß Ziffer 5.4 der Angebotsaufforderung sind Nebenangebote nicht zugelassen.

Sowohl die Antragstellerin (ASt) als auch die Beigeladene (Bg) gaben fristgemäß ein Angebot ab.

Die Wertung der Angebote nach den Zuschlagskriterien nahm die Ag anhand von Auswertungsbögen und Punktesystemen vor, die nach (unbestrittenem) Vortrag der Ag bereits vor Veröffentlichung der Ausschreibung erstellt, den Bietern aber zuvor nicht bekanntgegeben worden waren. Aus den Auswertungsbögen ergibt sich, dass die Ag das Zuschlagskriterium „Qualität“ anhand verschiedener technischer Werte bewertete. Die dort erreichte Gesamtpunktzahl ergibt sich danach aus den in den einzelnen Kategorien (zwei verschiedenen pH-Werten, dem Wert für die alkalische Reserve, deren Gleichmäßigkeit und die sog. Bruchkraft) erreichten Werten und den Wahrscheinlichkeiten von Nebenwirkungen des jeweils angebotenen Entsäuerungsverfahrens, jeweils mit unterschiedlichen Untergewichtungen. Der Wertung hat die Ag dabei die jeweils von den Bietern mit dem Angebot einzureichenden Protokolle der Verfahrenskontrolle bzw. die darin enthaltenen Messwerte und die Angaben der Bieter zu Nebenwirkungen zugrundegelegt. Zur Bepunktung stellte die Ag für die einzelnen Kategorien Bepunktungssysteme auf. So sollte es etwa für einen pH-Wert zwischen 7,0 und 9,5 (d.h. in dem von der fraglichen DIN-Empfehlung vorgegebenen Rahmen) zwischen einem (für 7,0) und zehn Punkte (für 9,5) geben; über oder unter diesem Bereich liegende Werte sollten 0 Punkte erhalten. Für die Bewertung der alkalische Reserve sah die Ag die Bestbepunktung für den Wert 1,5 Ma.-% MgCO3 und für von dort aus nach oben oder unten abweichende Werte entsprechend geringere Punktwerte; außerhalb des von der DIN-Empfehlung vorgegebenen Rahmens (von 0,5 bis 2,0 Ma.-% MgCO3) sollte es jeweils 0 Punkte geben. Des Weiteren wurde die Einhaltung der Vorgaben der DIN-Empfehlung (bzw. der jeweiligen Sollwertbereiche) durch die Routinekontrollen als Ausschlusskriterium geprüft. Das Kriterium „Workflow/Projektkonzept“ wurde unter anderem nach den folgenden Unterkriterien mit unterschiedlichen Gewichtungen bewertet:

„4.1 Formales:

Handelt es sich um ein ausgearbeitetes Dokument oder ist es eine „Werbebroschüre“ des Anbieters?

Gibt es viel Grafik und wenig Erklärungen?

Wirken die Dokumente seriös oder handelt es sich um schnell zusammengeschriebene Papiere?

4.2 Firmen-, Team- und Verfahrensvorstellung:

Handelt es sich beim Bieter um ein auf dem Gebiet der Massenentsäuerung erfahrenes und etabliertes Unternehmen?

Verfügt der Bieter über eine eigene Entsäuerungsanlage?

Ist das an der Leistungsbeschreibung beteiligte Team hinreichend qualifiziert (mind. 1 Restaurator oder vergleichbare Berufserfahrung)

4.3 Darstellung der Arbeitsabläufe:

Sind eindeutige technische Angaben vorhanden (z.B. Gerätebezeichnung)?

4.4 Risikomanagement:

Wird etwas zu kritischen Objekten gesagt oder wird es vermieden?

Ist dargestellt, wie mit problematischen Objekten umgegangen wird oder wird es vermieden?

Die Preiswertung nahm die Ag nach dem Auswertungsbogen in der Weise vor, dass sie zum einen den Gesamtpreis aller Leistungen (Massenentsäuerung und optionale Leistungen) und zum anderen den Gesamtpreis allein der Massenentsäuerungsleistungen – jeweils entsprechend den Mengen im Preisblatt (Anlage 9) – bewertet hat. Dies erfolgte jeweils als prozentuale Abweichung vom Bestpreis.

Mit Schreiben vom 29. September 2014 informierte die Ag die ASt, dass sie beabsichtige, den Zuschlag auf das Angebot der Bg zu erteilen. Die Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots sei gemäß den in den Ausschreibungsunterlagen genannten Kriterien erfolgt. Bei dem Zuschlagskriterium Preis habe die ASt 35 von 40 möglichen Punkten erhalten; bei dem Zuschlagskriterium Qualität hätten die übermittelten Kontrollwerte in der Gesamtbetrachtung unter denen des wirtschaftlichsten Angebots gelegen. Das eingereichte Projektkonzept/Workflow habe in Bezug auf Darstellung der Firmen-, Team- und Verfahrensvorstellung sowie bei der Darstellung der Arbeitsabläufe überzeugt.

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2014 rügte die ASt die beabsichtigte Vergabeentscheidung. Im Rahmen des Zuschlagskriteriums „Workflow/Projektkonzept“ vermische die Ag in unzulässiger Weise Eignungs- und Wertungsaspekte. Darüber hinaus seien das Zuschlagskriterium „Qualität“ und die hierzu erfolgte Angebotswertung intransparent und vergaberechtswidrig. Gleiches gelte für das Zuschlagskriterium „Preis“. Zudem sei die Angebotswertung zu beanstanden, da das Angebot der Bg aus mehreren Gründen nicht das wirtschaftlichste sein könne. Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 an die ASt wies die Ag die Rüge als verspätet zurück.

Mit Schreiben vom 9. Oktober 2014 beantragte die ASt bei der Vergabekammer des Bundes die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag der Ag am selben Tag übermittelt.

Mit ihrem Nachprüfungsantrag wendet sich die ASt gegen die Zuschlagskriterien in verschiedener Hinsicht und begehrt eine Zurückversetzung in den Stand vor Angebotsabgabe und Bekanntgabe vergaberechtskonformer Zuschlagskriterien.

Nach Auffassung der ASt sind die in den Vergabeunterlagen bekanntgegebenen Zuschlagskriterien „Qualität“ und „Preis“ im Hinblick auf Unterkriterien bzw. Wertungsmethoden vergaberechtswidrig nicht hinreichend konkretisiert worden. So sei das Kriterium „Qualität“ für sich genommen bzw. aus sich heraus nicht verständlich. Die Ag müsse notwendigerweise auf Unterkriterien abstellen, um die eingehenden Angebote transparent werten und miteinander vergleichen zu können. Die in der Leistungsbeschreibung aufgeführten Qualitätsanforderungen seien nicht ausreichend. Zum einen seien sie aus sich heraus nicht verständlich und widersprüchlich, und zum anderen sei nicht bekannt, wie sie im Sinne einer Gewichtung ins Verhältnis zueinander gesetzt würden. Dementsprechend sei auch die Angebotswertung insoweit intransparent. Zudem sei nicht nachvollziehbar, warum das Angebot der Bg besser bewertet worden sei, obwohl gewichtige Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Langzeitwirkung des Massenentsäuerungsverfahrens der Bg qualitativ deutlich hinter dem Verfahren der ASt zurückbleibe. In Bezug auf das Zuschlagskriterium „Preis“ hätte die Ag nach Ansicht der ASt die Berechnungsformel für die Umrechnung des Preises in Wertungspunkte bekanntgeben müssen.

Zudem habe die Ag bei der Wertung der Kriteriums „Workflow/Projektkonzept“ in unzulässiger Weise Eignungs- und Wirtschaftlichkeitsaspekte vermischt. Dies ergebe sich aus der Anlage 6, wonach offensichtlich die technische Ausstattung und die zur Verfügung stehenden Kapazitäten des Bieters bewertet würden. Ebenso solle das zur Verfügung stehende Team und der Umstand bewertet werden, dass mindestens ein spezialisierter Restaurator beteiligt sei. Hierbei handele es sich jeweils um Eignungskriterien, die als solche grundsätzlich nicht als Zuschlagskriterien herangezogen werden dürften. Dies gelte auch für sog. nachrangige Dienstleistungen wie vorliegend, wie sich aus der Ausnahmevorschrift des § 4 Abs. 2 Satz 2 VgV ergebe; die Voraussetzungen für die Ausnahmeregelung nach § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 4 VgV lägen ebenfalls nicht vor.

Da das Angebot der ASt qualitativ deutlich besser sei und die Bg die Leistung auch nicht zu deutlich niedrigeren Preisen anbieten könne, könne das Angebot der Bg nicht das wirtschaftlichste sein. Gegebenenfalls habe sie ein nach § 16 Abs. 6 VOL/A nicht zuschlagsfähiges Unterkostenangebot eingereicht.

Mit ihrem Nachprüfungsantrag sei die ASt auch nicht nach § 107 Abs. 3 GWB präkludiert. Die mit Schreiben vom 5. Oktober 2014 gerügten Verstöße habe die ASt nicht eher erkennen können. Da die ASt über keine überdurchschnittlichen Vergaberechtskenntnisse verfüge und auch bis zu diesem Verfahren keine Rüge oder gar Nachprüfungsantrag eingereicht habe, sei auch nicht entscheidend, ob an die Erkennbarkeit ein subjektiver oder objektiver Maßstab anzulegen sei. Weder sei es für die ASt noch für einen durchschnittlich verständigen Bieter erkennbar gewesen, dass die Ag Eignungs- und Zuschlagskriterien vermischt und die Zuschlagskriterien „Qualität“ und „Preis“ nicht hinreichend konkretisiert habe.

Nach Erhalt der Akteneinsicht, insbesondere in den von der Ag verwendeten Auswertungsbogen, macht die ASt des Weiteren geltend, dass sich eine unzulässige Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien im Rahmen des Zuschlagskriteriums „Workflow/Projektkonzept“ aus der Bewertung folgender Aspekte ergebe, die eignungsbezogen seien: Bewertung der Team- und Verfahrensvorstellung, der Qualifikation des einzusetzenden Personals, des Vorhandenseins einer eigenen Entsäuerungsanlage, der technischen Ausstattung des Bieters und der zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Bieter. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme nach § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 4 VgV lägen auch hier nicht vor. Zudem würden im Rahmen der Unterkriteriums „Formale Kriterien“ sachfremde – weil nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigte – Aspekte bewertet, die im Übrigen vergaberechtswidrig den Bietern nicht vor Angebotsabgabe bekanntgegeben worden seien.

In Bezug auf das Zuschlagskriterium „Qualität“ macht die ASt geltend, dass die Ag (tatsächlich vorhandene) Unterkriterien und deren Gewichtung vergaberechtswidrig nicht bekanntgemacht habe. Das Gleiche gelte auch für die jeweiligen Bepunktungssysteme, die von den Bietern nicht vorhersehbar gewesen seien. Bei vollständiger Kenntnis sämtlicher angewandter Wertungskriterien und Unterkriterien mitsamt ihrer Gewichtung hätte die ASt ein Angebot abgeben können, das deutlich bessere Zuschlagschancen gehabt hätte. Denn die ASt verfüge über zwei Testkammern, in denen laufend Routinekontrollen durchgeführt würden, wobei die Bedingungen in beiden Testkammern geringfügig unterschiedlich seien, um im Prozess der Massenentsäuerung nachsteuern zu können und die Qualität der Ergebnisse zu erhöhen. Hätte sie davon Kenntnis gehabt, dass nach Einzelwerten differenziert mehr oder weniger Punkte vergeben würden, hätte die ASt ihre Routinekontrollen deutlich präziser auf die gefragten Werte einstellen und bessere Ergebnisprotokolle für die Angebotswertung einreichen können. Im Übrigen sei der Umstand, dass es für den Höchstwert von 9,5 des nach der fraglichen DIN-Empfehlung zulässigen Schwankungsbereichs (7,0 bis 9,5) des pH-Werts die Bestpunktzahl gebe, nach der DIN-Empfehlung und aus technischer Sicht sachlich nicht gerechtfertigt.

In Bezug auf das Zuschlagskriterium „Preis“ ist die ASt nach erhaltener Akteneinsicht der Auffassung, dass die Ag die von ihr verwendete Umrechnungsformel, wonach teurere Angebote entsprechend der prozentualen Abweichung proportional weniger Punkte erhalten würden, hätte bekanntgeben müssen. Zudem habe die Ag die Preise für die optionalen Leistungen, die als Bedarfspositionen vorliegend weder grundsätzlich noch vom Umfang her schon nicht zulässig seien, nicht ordnungsgemäß gewertet. Denn die Preise für die Erbringung der Massenentsäuerung seien anders als die optionalen Leistungen doppelt in die Preiswertung eingegangen Dadurch würde im Übrigen der wohl bestehende preisliche Vorsprung des Angebots der Bg gegenüber dem der ASt zementiert.

Soweit im Rahmen des Zuschlagskriteriums „Workflow/Projektkonzept“ als Unterkriterium unter Ziffer 4.3. der Aspekt „Sind eindeutige technische Angaben vorhanden (z.B. Gerätebezeichnung?)“ gewertet werden, handele es sich auch hierbei um einen Eignungsaspekt, der auf der Ebene der Wirtschaftlichkeitsbewertung nicht berücksichtigt werden dürfe. Auch die Wertung der beiden Aspekte „Wird etwas zu kritischen Objekten gesagt oder wird es vermieden?“ und „Ist dargestellt, wie mit problematischen Objekten umgegangen wird oder wird es vermieden?“ unter Ziffer 4.4 führe zu einer faktische Doppelwertung von Zuschlagskriterien und sei damit vergaberechtswidrig.

Die ASt beantragt:

1. Der Ag wird untersagt, in dem Vergabeverfahren „[…] Massenentsäuerung“ den Zuschlag auf das Angebot der Bg zu erteilen.

2. Die Ag wird verpflichtet, das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer in den Stand vor Versand der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen und die Bieter unter Bekanntgabe zulässiger Eignungs- und Zuschlagskriterien zur erneuten Angebotsabgabe aufzufordern.

3. Hilfsweise zu 2: Die Ag wird verpflichtet, das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsabsicht unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer in den Stand vor Wertung der Angebote zurückzuversetzen und die Wertung der Angebote zu wiederholen.

4. Hilfsweise zu 3: Die Vergabekammer wirkt gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 GWB unabhängig auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens hin.

5. Die Vergabeakten der Ag werden zum Verfahren hinzugezogen, und der ASt wird gemäß § 111 Abs. 1 GWB Einsicht in die Vergabeakten der Ag gewährt.

6. Der Ag werden die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der ASt auferlegt.

7. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten durch die ASt wird für notwendig zu erklärt.

Die Ag beantragt in der Sache,

die Anträge zu 1) bis 4) abzuweisen.

Nach Auffassung der Ag ist der Nachprüfungsantrag der ASt nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB präkludiert. Vergaberechtsverstöße, die bereits in den Vergabeunterlagen erkennbar seien, müssten bis zur Angebotsfrist gerügt werden. Dies habe die ASt nicht getan. Bei den geltend gemachten Vergaberechtsverstößen handele es sich sämtlich um aus den Vergabeunterlagen erkennbare Verstöße. Insbesondere beziehe sich die ASt, soweit sie die Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien geltend mache, auf Angaben in den Vergabeunterlagen, insbesondere der Anlage 6. Zudem gehe die Rechtsprechung mittlerweile davon aus, dass ein durchschnittlicher Bieter den Verstoß der Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien erkennen könne. Auch was das Zuschlagskriterium „Qualität“ betreffe, sei die von der ASt gerügte fehlende Konkretisierung des Kriteriums aus den Vergabeunterlagen erkennbar. Da weder in der Bekanntmachung noch in den Vergabeunterlagen weitere Unterkriterien für eine Bewertung genannt worden seien, habe sich die ASt die Frage stellen müssen, wie ihre Angaben im Angebot gewertet und gewichtet würden. Gleiches gelte für das Zuschlagskriterium „Preis“ bzw. die preisliche Wertung. Auch hier hätte der ASt bei sorgfältigem Studium der Vergabeunterlagen auffallen müssen, dass hier seitens der Ag möglicherweise unzureichende Angaben gemacht worden seien, wie sie unterschiedliche Preise ins Verhältnis zueinander setze und die entsprechenden Prozentpunktzahlen ermittle. Als ein seit Jahren auf dem Gebiet der Massenentsäuerung tätiges Unternehmen habe die ASt bereits an vielen Ausschreibungsverfahren für die öffentliche Verwaltung erfolgreich teilgenommen. Sie besitze also ausreichende Kenntnisse des Vergaberechts, da sie andernfalls nicht in der Lage gewesen wäre, zuschlagsfähige Angebote abzugeben. Nicht erforderlich sei, dass die ASt auch „rügeerprobt“ sei. Der Kenntnis von Vergaberechtsverstößen dürfe sich ein Bieter nicht mutwillig verschließen. Soweit die ASt erst im Nachprüfungsverfahren beanstandet, die optionalen Leistungen stellten unzulässige Bedarfspositionen dar, sei sie in jedem Fall präkludiert, da sie dies spätestens nach Rechtsberatung durch ihren Verfahrensbevollmächtigten hätte rügen müssen.

Der Nachprüfungsantrag sei im Übrigen nicht begründet. Soweit die ASt eine vergaberechtswidrige Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien geltend mache, seien jedenfalls die Anforderungen nach § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 4 VgV erfüllt und eine Berücksichtigung von Eignungsaspekten in der Wertung zulässig.

Mit der Bekanntgabe der Hauptzuschlagskriterien und deren Gewichtungen sowohl in der Bekanntmachung als auch in den Vergabeunterlagen habe die Ag auch den Anforderungen des § 16 Abs. 8 VOL/A und des Transparenzgrundsatzes gemäß § 97 Abs. 1 GWB genügt. Eine Verpflichtung zur Angabe weiterer Unterkriterien habe weder aufgrund des Wortlauts der Regelung noch aus Transparenzgründen bestanden. Denn die Ag habe in der Leistungsbeschreibung als Grundvoraussetzung gefordert, dass das angebotene Entsäuerungsverfahren die Vorgaben der DIN-Empfehlung hinsichtlich der Grenzwerte für pH-Werte, Gleichmäßigkeit der Entsäuerung, alkalische Reserve und Bruchkraft nach Falzung erfülle. Dies sollten die Bieter durch die Protokolle der letzten Verfahrenskontrolle und der letzten 20 Routinekontrollen belegen. Unter Ziffer 3.1 der Leistungsbeschreibung habe die Ag die einzuhaltenden Qualitätsstandards formuliert. Schließlich habe die Ag unter Ziffer 3.2 Forderungen zu Neben- und Langzeitwirkungen aufgestellt und die Bieter dazu um Auskünfte gebeten. Damit habe die ASt bereits aus den Vergabeunterlagen deutlich und klar erkennen können, auf welche Maßstäbe es hinsichtlich des Zuschlagskriteriums „Qualität“ ankomme. Die Ag habe zudem in der Leistungsbeschreibung den Zielwert für die alkalische Reserve auf 1,5 Ma.-% MgCO3 konkretisiert und in der Wertung dafür die höchste Punktzahl vergeben. Eine generelle Pflicht zur Bekanntgabe aller von der Vergabestelle verwendeten Unterkriterien sei zu weitgehend. Denn bei der Angebotswertung stehe der Vergabestelle ein weiter, nur begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Integraler Bestandteil eines jeden Wertungsvorgangs sei die Auslegung und Konkretisierung von Zuschlagskriterien und ihre Anwendung auf den jeweiligen Einzelfall.

Zwar würde eine Verpflichtung zur Bekanntgabe von Unterkriterien und deren Gewichtung unter Umständen dann bestehen, wenn sich für die Bieter die Kenntnis davon auf den Inhalt der ihrer Angebote auswirken könne, was jedoch im vorliegenden Fall nicht gegeben sei. Die jeweilige Gewichtung der Einzelmaßstäbe sei anhand von Bewertungstabellen erfolgt, die die Ag vor der Ausschreibung erstellt habe. Die Angaben der Bieter zu den entsprechenden Maßstäben der Qualität würden im Wesentlichen auf Messergebnissen beruhen, die sich aus den jeweiligen Entsäuerungsverfahren zwingend ergeben würden; die Werte würden gemessen und stünden fest. Die ASt hätte somit keine anderen Angaben zu Messwerten machen können, weil ihr Verfahren mit eben diesen Messwerten verbunden und behaftet sei.

Auch das Kriterium „Preis“ habe nicht weiter konkretisiert werden müssen. Die Berechnungsformel habe ebenso wie der Bewertungsbogen zur Wertung des Kriteriums „Qualität“  bereits vor Bekanntgabe der Ausschreibung festgestanden  und sei damit diskriminierungsfrei. Auch werde weder die Transparenz des Vergabewettbewerbs noch die Gleichbehandlung der Bieter beeinträchtigt, weil die „Umrechnungsformel“ nicht bekanntgegeben worden sei.

Schließlich sei auch die Wertung der Angebote anhand der aufgestellten Kriterien nicht zu beanstanden.

Soweit die ASt geltend mache, unter Ziffer 4.4 seien Unterkriterien des Kriteriums „Workflow/Projektkonzept“ doppelt bewertet worden, sei dies falsch. Vielmehr seien zwei unterschiedlich zu bewertende Sachverhalte angesprochen worden: zum einen, ob es Objekte gebe, die generell kritisch für die Entsäuerung seien, zum anderen, wie der Bieter solche Objekte behandeln würde, also welche Vor- und Nachteile sein Verfahren biete und ob es Möglichkeiten gebe, eventuelle Nachteile zu mindern.

Mit Beschluss vom 15. Oktober 2014 ist die Bg zum Verfahren hinzugezogen worden. Sie macht ebenso wie die Ag geltend, dass der Nachprüfungsantrag der ASt unzulässig sei. Die ASt sei nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB präkludiert, da sie, indem sie die bekanntgegebenen Zuschlagskriterien „Qualität“, „Preis“ und „Workflow/Projektkonzept“ angreife, Verstöße gegen Vergaberechtsvorschriften gerügt habe, die bereits in den Vergabeunterlagen erkennbar gewesen seien und daher bis zum Ablauf der Angebotsfrist hätten gerügt werden müssen. Dabei könne vorliegend dahinstehen, ob an die Erkennbarkeit ein subjektiver oder ein objektiver Maßstab anzulegen sei. Die ASt sei seit vielen Jahren eine sehr erfahrene Teilnehmerin an europaweiten Ausschreibungen, wie zahlreiche gewonnene Verfahren belegen würden. Im Übrigen sei in der Branche bekannt, dass Nachprüfungsverfahren im Bereich der Vergabe von Massenentsäuerungsverfahren geführt würden; die ASt sei auch selbst als Beigeladene an Nachprüfungsverfahren beteiligt gewesen und habe eigene Anträge gestellt. Wie die gewonnenen Ausschreibungen belegen würden, sei die ASt keine durchschnittliche, sondern eine überdurchschnittlich erfolgreiche und erfahrene Bewerberin um öffentliche Aufträge. Die ASt hätte alle gerügten Verstöße erkennen können und habe aus Spekulationsgründen nicht gerügt. Entgegen dem Vortrag der ASt sei die Bg im Übrigen geeignet und habe entsprechend den Ausschreibungsbedingungen das wirtschaftlichste Angebot abgegeben. Hingegen fehle es möglicherweise der ASt mit Blick auf deren Jahresabschlüsse 2011 und 2012 an der Eignung zur Durchführung des Auftrags. Der Einwand der ASt, der von der Ag angelegte Wertungsmaßstab in Bezug auf die pH-Werte sei nicht sachgerecht, sei im Übrigen nicht zutreffend.

Die Bg stellt keine Sachanträge, beantragt aber Akteneinsicht in die Vergabeakte.

Die Vergabekammer hat der ASt und der Bg antragsgemäß Einsicht in die Vergabeakten gewährt, soweit keine geheimhaltungsbedürftigen Aktenbestandteile betroffen waren. Von der ASt darüber hinausgehend beantragte Akteneinsicht wurde nicht gewährt. In der mündlichen Verhandlung am 3. November 2014 hatten die Beteiligten Gelegenheit, ihre Standpunkte darzulegen und mit der Vergabekammer umfassend zu erörtern. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.

II.

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.

a) Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens ist ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag (99 Abs. 1, 4 GWB), der den maßgeblichen Schwellenwert überschreitet (§ 100 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 GWB i.V.m. § 2 Abs. 1 VgV). Die Vergabekammer des Bundes ist gemäß §§ 104 Abs. 1, 106a Abs. 1 Nr. 2 GWB zuständig.

b) Die ASt ist auch gemäß 107 Abs. 2 GWB antragsbefugt. Sie hat ihr Interesse am Auftrag durch Abgabe eines Angebots dokumentiert. Des Weiteren macht sie, indem sie die Zuschlagskriterien und die damit einhergehende Wertung der Angebote beanstandet, geltend, durch Vergaberechtsverstöße in ihren Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB verletzt zu sein. Durch die behauptete Rechtsverletzung droht ihr auch ein Schaden zu entstehen, da sich die Zuschlagskriterien und deren Anwendung unmittelbar auf die Zuschlagschancen des Bieters auswirken.

c) Die ASt ist des Weiteren nicht mit ihrem Nachprüfungsantrag nach 107 Abs. 3 GWB präkludiert. Dabei kann offen bleiben, ob die von der ASt im Vorfeld des Nachprüfungsantrags mit Schreiben vom 5. Oktober 2014 gerügten Verstöße nach § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB erkennbar waren und damit vor Ablauf der Angebotsfrist hätten gerügt werden müssen. Denn in Bezug auf den erst nach erfolgter Akteneinsicht erkennbaren und hier letztlich entscheidungserheblichen Verstoß, dass zur Angebotswertung herangezogene Unterkriterien und deren Gewichtungen nicht zuvor den Bietern bekanntgegeben wurden (siehe unten 2.), ist eine Rüge entbehrlich (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2014, X ZB 14/06; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Juli 2007, VII-Verg 27/06). Auch eine Rüge im Nachprüfungsverfahren (gewissermaßen analog § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB) ist nicht erforderlich (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2010, VII-Verg 40/10). Der Entbehrlichkeit der Rüge steht auch nicht entgegen, dass der Nachprüfungsantrag möglicherweise – wie Ag und Bg geltend machen – anfänglich aufgrund verspäteter Rüge der ASt nach § 107 Abs. 3 GWB unzulässig war. Dies kann allenfalls zur Folge haben, dass der Antrag hinsichtlich von verspätet gerügten Vergabeverstößen unzulässig bleibt. Es widerspräche hingegen dem für das Nachprüfungsverfahren geltenden Beschleunigungsgrundsatz (vgl. § 113 GWB), den Bieter in Bezug auf während des Nachprüfungsverfahrens erkannte Vergaberechtsverstöße auf ein neues Nachprüfungsverfahren (mit zuvor erhobener Rüge des nunmehr erkannten Vergabeverstoßes) zu verweisen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 12. Mai 2005, 13 Verg 5/05; OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Oktober 2005, 1 Verg 4/05; VK Bund, Beschluss vom 9. Oktober 2008, VK 1-123/08).

Anders als Ag und Bg meinen, handelt es sich hierbei auch nicht um denselben Verstoß wie den zunächst von der ASt gerügten – und nach Ansicht von Ag und Bg präkludierten – Verstoß der Intransparenz der Zuschlagskriterien und der damit einhergehenden Wertung. Denn während die ASt zunächst geltend machte, dass eine transparente Wertung ohne Unterkriterien vergaberechtskonform nicht möglich sei und die Ag Unterkriterien hätte bilden müssen (aber wohl nicht gebildet worden seien; ob es welche gab, hätte sie nur vermuten können), geht es vorliegend um den Verstoß, dass diese Kriterien, obwohl es sie – wie die ASt erst der Akteneinsicht entnehmen konnte -gegeben hat, den Bietern jedoch vergaberechtswidrig nicht transparent gemacht worden sind. Erst nach Akteneinsicht konnte die ASt in tatsächlicher Hinsicht von den fraglichen Unterkriterien Kenntnis erhalten; diese Kenntnis ist jedoch eine maßgebliche Voraussetzung für das Entstehen einer Rügeobliegenheit. Mögliche Vermutungen sind hingegen nicht geeignet, eine Rügeobliegenheit auszulösen. Auch der seitens der Ag und insbesondere der Bg vertretenen weiten Auslegung der Rügeobliegenheit in Bezug auf aufeinander aufbauende Vergabeverstöße in dem Sinne, dass eine Rügepräklusion inhaltlich unzureichender Zuschlagskriterien gleichzeitig auch eine Rügepräklusion hinsichtlich nicht bekanntgegebener (aber tatsächlich vorhandener) Unterkriterien einschließt, vermag die Vergabekammer nicht beizutreten. Denn bei der Rügeobliegenheit handelt es sich um eine den Vergaberechtsschutz einschränkende Präklusionsnorm, die dementsprechend eng auszulegen ist.

d) Die Frist für die Einreichung des Nachprüfungsantrags nach 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB hat die ASt gewahrt.

2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet. Dadurch, dass die Ag für die Angebotswertung nach den Zuschlagskriterien („Qualität“, „Preis“ und „Workflow/Projektkonzept“) zusätzlich Unterkriterien einschließlich Untergewichtungen mit heranzieht, die sie den Bietern nicht zuvor bekanntgegeben hat, hat die Ag gegen den Transparenzgrundsatz gemäß § 97 Abs. 1 GWB verstoßen (siehe unten a)) und die ASt dadurch in ihren Rechten verletzt (siehe unten b)). Das mögliche Vorliegen weiterer von der ASt vorgebrachter Vergaberechtsverstöße aufgrund der Auswahl der Unterkriterien ist daher nicht mehr entscheidungserheblich.

Da es sich bei den ausgeschriebenen Dienstleistungen um solche, die der Dienstleistungskategorie Nr. 26 (oder wie die Ag annimmt: Nr. 27) der Anlage 1 Teil B der VgV zuzuordnen sind, und damit um sog. nachrangige Dienstleistungen handelt, sind vorliegend gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VgV die Regelungen der §§ 8 EG, 15 EG Abs. 10 und 23 EG sowie die Regelungen des ersten Abschnitts der VOL/A (mit Ausnahme von § 7 VOL/A) anzuwenden.

a) Indem die Ag die zu den Zuschlagskriterien gebildeten Unterkriterien und deren Gewichtungen den Bietern nicht vor Angebotsabgabe zur Kenntnis gegeben hat, hat sie gegen den Transparenzgrundsatz nach 97 Abs. 1 GWB verstoßen.

Das Transparenzgebot nach § 97 Abs. 1 GWB (vgl. auch § 2 Abs. 1 Satz 1 VOL/A) erfordert, dass der öffentliche Auftraggeber in den Vergabeunterlagen oder der Bekanntmachung alle Zuschlagskriterien und Unterkriterien, die er anzuwenden gedenkt, sowie deren Gewichtung angibt. Die Wertung darf nur anhand der bekanntgegebenen Zuschlagskriterien und Unterkriterien erfolgen; umgekehrt darf der Auftraggeber keine Unterkriterien oder Gewichtungsregeln anwenden, die er den am Auftrag interessierten Unternehmen nicht vorher zur Kenntnis gebracht hat. Dies hat auch dann zu gelten, wenn der Auftraggeber solche Kriterien und Regeln im Nachhinein ändert, ergänzt oder neu einführt (vgl. zum Ganzen: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. März 2013, VII-Verg 53/12, m.w.N.; vgl. auch explizit im Fall der Ausschreibung von sog. nachrangigen Dienstleistungen: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Mai 2008, VII-Verg 5/08). Da sich diese Vorgaben bereits aus dem auch für sog. nachrangige Dienstleistungen geltenden Transparenzgrundsatz ergeben, ist es nicht von Bedeutung, dass es für nachrangige Dienstleistungen keine europarechtlichen Vorgaben zur Bekanntgabe von Zuschlagskriterien und Gewichtungen gibt und anders als im 2. Abschnitt der VOL/A in § 9 EG Abs. 1 Satz 2 lit. b), Abs. 2 und § 19 EG Abs. 8 VOL/A im hier überwiegend anwendbaren 1. Abschnitt in § 8 Abs. 1 Satz 2 lit. b) und § 16 Abs. 7 VOL/A keine Bekanntgabepflicht in Bezug auf die Gewichtungen geregelt ist. Nur dadurch, dass die Zuschlagskriterien einschließlich ihrer Unterkriterien (und Unter-Unterkriterien usw.), soweit diese vom Auftraggeber aufgestellt werden, sowie deren Gewichtungen den Bietern für die Angebotserstellung an die Hand gegeben werden, ist es diesen möglich, im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten dasjenige Angebot zu erstellen, das am besten diesen (bekanntgegebenen) Kriterien entspricht und damit nach der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nach § 97 Abs. 5 GWB das dem Unternehmen bestmögliche Angebot ist. Umgekehrt erhält der Auftraggeber die jeweils nach seinen Maßstäben – nämlich den bekanntgegebenen gewichteten Kriterien -bestmöglichen Angebote der einzelnen Bieter und kann darunter das wirtschaftlichste Angebot auswählen. Nur so kann dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 97 Abs. 5 GWB bestmöglich Rechnung getragen werden und ein Höchstmaß an Wettbewerb (vgl. § 97 Abs. 1 GWB) zwischen den Bietern erreicht werden. Entgegen der Ansicht der Ag begrenzt die Pflicht zur vorherigen Bekanntgabe aller zur Wertung herangezogenen Kriterien und deren Gewichtungen auch nicht einen bei der Angebotswertung unter Umständen bestehenden Beurteilungsspielraum des Auftraggebers. Denn die Eröffnung eines Beurteilungsspielraums setzt begriffsnotwendig ein „beurteilungsbedürftiges“ Kriterium voraus, anhand dessen „beurteilt“ wird. Umgekehrt würde die Bildung von Wertungskriterien in Ansehung der Angebote dem Diskriminierungsverbot nach § 97 Abs. 2 GWB zuwiderlaufen.

Die Ag hat entgegen dieser bestehenden Pflicht zur vorherigen Bekanntgabe von allen im Rahmen der Wertung berücksichtigten Wertungskriterien und deren Gewichtungen nur die Oberkriterien „Qualität“, „Preis“ und „Workflow/Projektkonzept“ und deren Gewichtungen bekanntgegeben. Die bei Angebotswertung des Weiteren berücksichtigten Unterkriterien und deren Gewichtungen hat sie den Bietern hingegen vergaberechtswidrig nicht zur Verfügung gestellt. Beim Zuschlagskriterium „Qualität“ handelt es sich um die verschiedenen bepunkteten Messwerte (z.B. die verschiedenen pH-Werte) und die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen bei dem angebotenen Massenentsäuerungsverfahren. Zwar werden die fraglichen Messwerte direkt oder mittelbar in der Leistungsbeschreibung erwähnt. Diese dient jedoch in erster Linie der Beschreibung der auszuführenden Leistungen und der daran gestellten Anforderungen und nicht der Beschreibung von Zuschlagskriterien. Ihr ist darüber hinaus weder zu entnehmen, dass die einzelnen Messwerte tatsächlich und auch graduell bewertet würden (und nicht nur die Einhaltung der DIN-Empfehlungsvorgaben allgemein), noch, nach welchen Gewichtungen und Bepunktungssystemen die einzelnen Werte bewertet würden. Bei dem Kriterium „Workflow/Projektkonzept“ handelt es sich um die Kriterien „Formales“, „Firmen- Team- und Verfahrensvorstellung“, „Darstellung der Arbeitsabläufe“ und „Risikomanagement“. Diese Kriterien entsprechen insbesondere auch nicht den in Anlage 6 aufgelisteten Vorgaben für den Inhalt des zu bewertenden Projektkonzepts, geschweige denn, dass daraus Gewichtungen abzulesen wären.

Auch die Methode der Preisbewertung hätte die Ag aufgrund des Transparenzgebots den Bietern vor Angebotsabgabe bekanntgeben müssen. Zwar wäre eine Bekanntgabe nicht erforderlich, wenn auch ohne Bekanntgabe der Umrechnungsformel sich den Bietern ohne Weiteres aus den Vergabeunterlagen erschließen würde, welcher Preis in die Wertung eingehen würde und eine lineare Umrechnung von Preisabständen zur Anwendung komme (vgl. insoweit auch OLG Schleswig, Beschluss vom 7. Juli 2010, 1 Verg 1/10). Vorliegend hat sich die Ag jedoch entschieden, nicht nur den gemäß Anlage 9 der Vergabeunterlagen von den Bietern auszuweisenden Netto-Gesamtpreis (für Massenentsäuerung sowie optionale Leistungen mit den entsprechenden Mengenansätzen) zugrundezulegen, was die Bieter vielleicht noch aus den Vergabeunterlagen unmittelbar hätten schließen können. Vielmehr hat sie daneben auch den Netto-Gesamtpreis allein für die Massenentsäuerungsleistungen bewertet und beide Gesamtpreise bzw. die entsprechenden Abweichungen noch zueinander (unterschiedlich) gewichtet. Dies war keinesfalls den Vergabeunterlagen zu entnehmen. Daher ist es auch unbeachtlich, dass die Ag als Umrechnungsmethode die lineare Umrechnung von (prozentualen) Preisabständen in Punktwerte und entsprechenden Punktabzug von der Höchstpunktzahl gewählt hat, wobei es sich möglicherweise um die sich aufdrängende Umrechnungsmethode handelt (vgl. OLG Schleswig, a.a.O.).

b) Durch den unter a) festgestellten Verstoß ist die ASt auch in ihren Rechten verletzt. Denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die ASt in Kenntnis der fraglichen Unterkriterien ein anderes Angebot abgegeben hätte, das eine Punktzahl erreicht hätte, die ihr den ersten Rangplatz verschafft hätte. Die ASt hätte vielmehr bei jedem Zuschlagskriterium aufgrund einzelner nicht bekanntgegebener Unterkriterien zusätzliche Punkte erzielen können. Entgegen der Auffassung der Ag ist insbesondere auch nicht ausgeschlossen, dass die ASt ihr Massenentsäuerungsverfahren im Hinblick auf die von der Ag aufgestellten Messwerte des Kriteriums „Qualität“ optimieren könnte.

3. Um den festgestellten Vergaberechtsverstoß zu beseitigen, hat die Ag – für den Fall fortbestehender Beschaffungsabsicht – das Vergabeverfahren in den Stand vor Versendung der Vergabeunterlagen zurückzuversetzen und die Vergabeunterlagen insoweit zu überarbeiten, als dass sie alle Zuschlagskriterien und Unterkriterien samt Gewichtung aufnimmt, die sie für die Angebotswertung heranziehen will. Dabei hat sie darauf zu achten, dass die jeweiligen Kriterien und Unterkriterien (auch soweit sie durch weitere Angaben konkretisiert werden) vergaberechtskonform ausgestaltet werden und insbesondere nicht gegen das Verbot der Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien verstoßen oder entgegen § 16 Abs. 8 VOL/A sachwidrig sind. Vor diesem Hintergrund wäre etwa in Bezug auf das Kriterium „Workflow/Projektkonzept“ das Unterkriterium „4.1 Formales“ mit den genannten Wertungsaspekten dazu problematisch, da danach nur das formale Äußere bzw. die äußere Gestaltung des Projektkonzepts losgelöst von den zur Ausführung ausgeschriebenen Leistungen bewertet würde; als durch den Ausschreibungsgegenstand nach § 16 Abs. 8 GWB gerechtfertigt wäre das Kriterium nicht, da es diesen selbst gar nicht betreffen würde. Auch das derzeitige Unterkriterium „4.2 Firmen-, Team- und Verfahrensvorstellung“ ist insoweit problematisch, als unter anderen der Umstand gewertet wird, ob der Bieter ein auf dem Gebiet der Massenentsäuerung erfahrenes und etabliertes Unternehmen ist und über eine eigene Entsäuerungsanlage verfügt. Bei diesen Aspekten handelt es sich um typische Eignungsanforderungen (an Fachkunde und technische Leistungsfähigkeit, vgl. auch z.B. § 7 EG Abs. 3 lit. a) und b) VOL/A), die auch nicht unter § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 4 VgV fallen dürften. Soweit die Ag hingegen die Qualifikation des mit der Auftragsausführung betrauten Personals bewerten will, ist dies wegen des direkten Auftragsbezug grundsätzlich zulässig, da es in der Form kein Eignungskriterium darstellt (vgl. zur Vermischung von Eignungs- und Zuschlagskriterien, insbesondere in Bezug auf Personalressourcen und auch die Anwendung von § 4 Abs. 2 Satz 2 bis 4 VgV, VK Bund, Beschluss vom 16. Juni 2014, VK 1-38/14, m.w.N.). Auch soweit für die Darstellung des Verfahrensablaufs Angaben zu zur Auftragsdurchführung eingesetzten Geräten gefordert und bewertet werden (vgl. Unterkriterium „4.3 Darstellung der Arbeitsabläufe“) ist dies unschädlich, solange nicht die (allgemeine) technische Leistungsfähigkeit des Bieters bewertet wird. Soweit die ASt im Rahmen der fehlenden Transparenz der Preiswertung auch geltend gemacht hat, dass die Ag unzulässige Bedarfspositionen gefordert und diese unzutreffend gewertet habe, ist zu bemerken, dass es sich bei dem zu vergebenden Auftrag insgesamt um einen Rahmenvertrag (auch in Bezug auf die Massenentsäuerungsleistungen) handelt, wie sich insbesondere aus Ziffer 1.2 und 4 der Leistungsbeschreibung (aber auch §§ 4, 5 des Vertragsentwurfs) ergibt, der nach § 4 Abs. 1 Satz 2 VOL/A typischerweise keine abschließende Bestimmung des Auftragsvolumens enthält. Einzelne Leistungen eines Rahmenvertrags abhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Abrufs in der Preiswertung zu gewichten, erscheint der Vergabekammer derzeit nicht problematisch; mit Bekanntgabe der entsprechenden Wertungsmodalitäten können sich die Bieter ohne Weiteres darauf einstellen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten das nach dieser Wertungsmethode günstigste Angebot erarbeiten.

4. Über den Umfang der erteilten Akteneinsicht hinaus war der ASt keine weitere Akteneinsicht zu gewähren. Vor dem Hintergrund des Verfahrensausgangs ist nicht ersichtlich, dass sie zur Durchsetzung ihres Begehrens weiterer Akteneinsicht bedurft hätte.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 128 Abs. 3 Satz 1 und 2, Abs. 4 Satz 1 und 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG.

Die Bg ist an den Kosten zu beteiligen, da sie in einem Interessengegensatz zur ASt steht, sie sich durch Einreichen von Schriftsätzen und substantiellen mündlichen Vortrag in der mündlichen Verhandlung am Nachprüfungsverfahren aktiv beteiligt hat und mit der von ihr dadurch unterstützten Ag im Verfahren unterliegt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Mai 2012, VII-Verg 5/12; Beschluss vom 15. Februar 2012, VII-Verg 85/11). Dabei ist unerheblich, dass die Bg keine förmlichen Anträge gestellt hat; für eine aktive Beteiligung am Nachprüfungsverfahren reicht aus, wenn sich die Beigeladene – wie hier – schriftsätzlich zu den streitigen Rechtsfragen geäußert und die Zulässigkeit und Begründetheit des Nachprüfungsantrags der ASt verneint hat (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Mai 2012, VII-Verg 5/12). Für die zu erstattenden Aufwendungen der ASt haften die Ag und die Bg nach Kopfteilen, also je zur Hälfte (analog § 159 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO); eine gesamtschuldnerische Haftung kommt insoweit mangels gesetzlicher Anordnung nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2006, X ZB 14/06).

Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die ASt war notwendig. In dem Nachprüfungsverfahren stellten sich Rechtsfragen, deren Komplexität und Schwierigkeiten anwaltliche Vertretung notwendig gemacht haben.

Der Vorsitzende Behrens ist wegen Ortsabwesenheit an der Unterschrift gehindert.

Ohlerich                     Ohlerich

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