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Gericht: Bundesverwaltungsgericht

Entscheidungsdatum: 23.07.1965

Aktenzeichen: VII C 196.64

Entscheidungsart: Urteil

eigenes Abstract: Ein Kandidat, der durch das zweite juristische Staatsexamen gefallen ist, klagt auf Aufhebung der Prüfungsentscheidung. Er führt an, er sei gegenüber anderen Prüflingen bei der Vorbereitung seines mündlichen Aktenvortrags erheblich benachteiligt worden, da er die Bibliothek aufgrund unzulänglicher Öffnungszeiten am Wochenende nicht nutzen konnte. Nach Klageabweisung in den Vorinstanzen wurde der Revision beim Bundesverwaltungsgericht stattgegeben. Damit erhält die Kläger die Möglichkeit, die mündliche Prüfung zu wiederholen.

Instanzenzug:
– OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.1964, AZ: II A 1123/64
– VG Gelsenkirchen

Amtlicher Leitsatz:
Der Grundsatz der Chancengleichheit im Prüfungsrecht ist verletzt, wenn bei einer (juristischen) großen Staatsprüfung bei der Festsetzung des Prüfungstermins nicht die Möglichkeit geboten wird, auch am 2. Werktag vor der Prüfung zur Vorbereitung des Vertrags eine Gerichtsbücherei zu benutzen.

Tenor:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. November 1964 wird aufgehoben. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens.

Gründe
I.
Der Kläger, der die erste juristische Staatsprüfung im Jahre 1960 mit ausreichend bestanden hatte und zur zweiten juristischen Staatsprüfung mit der Note „ausreichend“ vorgestellt worden war, bestand diese Prüfung … März 1964, nicht. Die Hausarbeit wurde mit noch ausreichend, zwei Klausuren mit unzulänglich, eine mit ausreichend und eine mit befriedigend bewertet. Der Vortrag erhielt die Note „unzulänglich“ und das fachliche Können in der mündlichen Prüfung die Note „noch ausreichend“. Über die Gründe des Misslingens der Prüfung äußerte sich der Prüfungsausschuss folgendermaßen:

„Nach den schriftlichen Leistungen war ein Ausgleich in der mündlichen Prüfung erforderlich. Dieser ist dem Kandidaten nicht gelungen. Der Vortrag konnte bereits in der äußeren Form nicht gefallen. Sachlich enthielt er so erhebliche Mängel, dass er insgesamt als unzulänglich gewertet werden musste. In der mündlichen Prüfung ergab sich, dass der Kandidat in der Rechtsanwendung schwerfällig ist und die elementaren Rechtskenntnisse nicht so sicher beherrscht, dass ihm von da aus die Rechtsanwendung leicht fällt.“

Die vom Kläger auf Aufhebung der Prüfungsentscheidung gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen. In den Gründen des Urteils ist folgendes ausgeführt: Die Prüfungsentscheidung sei nicht rechtswidrig. Ein Verstoß gegen § 41 Abs. 1 der Juristenausbildungsordnung in der Fassung vom 12. Juli 1962 (GV NW S. 447) – JAO – liege nicht vor. Nach dieser Vorschrift seien die Vertragsakten dem Prüfling am dritten Werktag vor der Prüfung zu überleben. Als Werktag sei auch der Samstag anzusehen. § 41 JAO sei aus früheren Vorschriften übernommen worden und habe auch nach der Einführung der 5-Tage-Woche seinen früheren Sinn behalten. Zwar seien die behördlichen Büchereien seitdem am Samstag geschlossen. Diese Regelung sei jedoch nicht so wesentlich und grundlegend, dass § 41 JAO entgegen dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, der nach der Einführung der 5-Tage-Woche im Jahre 1962 die Juristenausbildungsordnung geändert habe, anders auszulegen sei. Die Leistungen des Prüflings beim Vortrag sollten den Anforderungen der richterlichen Praxis genügen. Hierfür sei es nicht erforderlich, an allen drei Tagen zur Vorbereitung des Vortrages die Büchereien zu benutzen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die behördlichen Büchereien früher nur am Vormittag des Samstags geöffnet gewesen seien. Der Gleichheitssatz sei durch diese Regelung nicht verletzt. Zu den Zufälligkeiten, mit denen jede Prüfung behaftet sei, zähle der Prüfungstermin. Dabei sei auch in Betracht zu ziehen, dass der Prüfling, dessen Vorbereitungszeit einen Samstag mit umfasse, einen Ausgleich dadurch erhalte, dass ihm zusätzlich zur Vorbereitung der folgende Sonntag zur Verfügung stehe. Bei der Auswahl der Vortragsakten werde auf die Tatsache Rücksicht genommen, dass in dem kurzen zur Verfügung stehenden Zeitraum keine schwierigen rechtlichen Erwägungen angestellt werden könnten. Auch beträfen die Vortragsakten in der Regel einfach gelagerte Sachverhalte, zu deren rechtlicher Beurteilung nicht die Benutzung einer Fachbibliothek an drei vollen Tagen erforderlich sei. Spätestens am Nachmittag des ersten Tages müsse der Prüfling in der Lage sein, das Ergebnis seiner methodischen gedanklichen Durcharbeitung mit den in der Literatur vertretenen Auffassungen und einer gegebenenfalls vorhandenen Rechtsprechung zu vergleichen. Für die Klärung irgendwelcher Zweifelsfragen habe er dann immer noch am Montag hinreichend Gelegenheit. Auch ein Richter könne nicht für die Vorbereitung des Vertrags einer verhältnismäßig einfach gelagerten Streitsache drei Tage lang eine Fachbibliothek benutzen. Eine allzu große Vertiefung in die Gedankengänge von Kommentatoren und Gerichtsentscheidungen könne für die Prüfung sogar von Nachteil sein, weil die Gefahr bestehe, dass dann die eigene Gedankenarbeit verhindert oder eingeschränkt werde. Der Kläger hat Revision eingelegt und Verletzung des Art. 3 GG in Verbindung mit § 41 Abs. 1 Satz 1 JAO gerügt. Er meint, das Berufungsgericht habe die Benachteiligung nicht hinreichend berücksichtigt, die darin liege, dass er nur am Freitag und dann erst wieder am Montag die Bücherei habe benutzen können. Das Berufungsgericht habe auch den Begriff des Werktages verkannt. Der Beklagte tritt den Ausführungen des Klägers entgegen und weist darauf hin, dass § 41 JAO den nicht-revisibelen Landesrecht angehöre. § 41 könne nicht dahin ausgelegt werden, dass unter Werktagen lediglich die Wochentage von Montag bis Freitag verstanden würden. Die uneingeschränkte Benutzung der öffentlichen Büchereien an drei Werktagen sei nicht erforderlich, um den Vortrag sachgerecht vorbereiten zu können. Der Prüfling müsse die Auswahl der Tage als einen der jeder Prüfung anhaftenden Zufälle hinnehmen.

II. Die Revision ist begründet. Sie muss zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils führen.
Aus dem Wesen des Prüfungsvorganges ergibt sich nach der Rechtsprechung des Senats, dass dem Grundsatz der Chancengleichheit Rechnung getragen werden muss (BVerwGE 16, 150 [BVerwG 14.06.1963 – VII C 44/62]). Der Grundsatz der Chancengleichheit ist verletzt, weil dem Kläger nicht auch am zweiten Tage der dreitägigen Vorbereitungszeit wenigstens für einen gewissen Zeitraum die Möglichkeit gegeben wurde, eine öffentliche Bücherei zu benutzen. Dadurch wurde der Kläger wesentlich schlechter gestellt als andere Prüflinge, bei denen der Sonnabend nicht in die dreitägige Vorbereitungsfrist fiel. Das Berufungsgericht hat den § 41 JAO, der den Landesrecht angehört, dahin ausgelegt, dass unter „Werktag“ auch der Sonnabend zu verstehen ist, an dem die öffentlichen Büchereien geschlossen sind. An diese Auslegung ist das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 VwGO gebunden. Ob diese Regelung mit Bundesrecht vereinbar ist, bedarf keiner Entscheidung, denn es kommt hier lediglich darauf an, ob das Prüfungsamt auch unter Berücksichtigung, dass der Sonnabend als Werktag anzusehen ist und somit in die Dreitagefrist der Vorbereitung auf den mündlichen Vortrag einbezogen werden durfte, im Falle des Klägers die Grenzen seines Ermessens eingehalten hat, die sich aus dem Grundsatz der Chancengleichheit ergeben. Dies ist nicht geschehen. Das Berufungsgericht ist bei der Beurteilung der Rechtslage dem Prüfungsvorgang nicht gerecht geworden. Allerdings worden für den Vortrag in der großen juristischen Staatsprüfung nur Akten verhältnismäßig geringen Umfangs ausgesucht, und es kommt entscheidend darauf an, ob der Prüfling seine Befähigung nachweist, den wesentlichen Sachverhalt kurz darzustellen und einen brauchbaren Entscheidungsvorschlag zu begründen. Die Fälle liegen jedoch häufig nicht so einfach, dass der Prüfling bereits notwendigerweise am ersten Tage die entscheidenden Fragen erfasst und daher sich bereits am zweiten Tage der gedanklichen Vertiefung und Ausarbeitung des Vertrages zuwenden kann. Häufig wird ein Prüfling erst nach längerem Überlegen auf die entscheidenden Probleme stoßen. Andererseits kann das entscheidende Problem aber auch weniger in einer Rechtsfrage als in der Würdigung des Sachverhalts und einer Beweisaufnahme liegen. Mit diesen Fragen musste sich der Kläger am Freitag nach Erhalt der Vortragsakten auseinandersetzen und zu einer Klärung gelangen, bevor die Bücherei schloss, wenn er sich über das Wochenende Bücher ausleihen wollte. Gerade schwächere Prüflinge werden jedoch langsamer zu den entscheidenden Rechtsfragen des Aktenstücks durchdringen und auch mehr Zeit dafür benötigen, Nebenfragen zu prüfen oder Probleme zu durchdenken, auf deren Behandlung es, wie sich erst nach abschließender Klärung ergibt, gar nicht ankommt. Am letzten Tage der Vorbereitungszeit muss der Denkvorgang bereits so weit fortgeschritten sein, dass der Prüfling sich der abschließenden Formulierung zuwenden kann. Er muss also auch am zweiten Tage der Vorbereitungszeit in der Lage sein, Rechtsfragen nachzuprüfen, und somit Gelegenheit haben, entweder eine öffentliche Bücherei zu benutzen oder zumindest die einschlägige Literatur auszuleihen. Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Dem Kläger hätte zumindest die Möglichkeit gegeben werden müssen, auch an Sonnabend einige Stunden eine öffentliche Bücherei zu benutzen und sich einzelne Bücher zu entleihen. Die Justizverwaltung wird nicht vor unzumutbare organisatorische Aufgaben gestellt, wenn sie hierfür an einem Sonnabend die Möglichkeit schafft, falls eine Prüfung auf den Dienstag angesetzt wird. Nicht die Juristenausbildungsordnung, sondern die Anwendung dieser Verordnung durch das Prüfungsamt verstieß gegen den Gleichheitssatz. Zu Unrecht meint der Beklagte, dass die uneingeschränkte Benutzung einer öffentlichen Bücherei an allen drei Tagen der Vorbereitungsfrist nicht notwendigerweise zu einer sachgerechten Vorbereitung gehöre und dass als Prüfungstage nur noch der Donnerstag und der Freitag in Betracht kämen. Wird die Möglichkeit geschaffen, dass in dem erwähnten Umfang die Benutzung einer Bücherei auch am zweiten Tage der Frist möglich ist, so steht nichts im Wege, eine Prüfung auch an einem anderen Wochentage als am Donnerstag oder Freitag stattfinden zu lassen. Nach den einzelnen Bewertungen, die der Kläger erhalten hat, ist es nicht auszuschließen, dass das Nichtbestehen der Prüfung auf der Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit beruht.
Der Revision war daher stattzugeben und unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Das Prüfungsamt wird dem Kläger nunmehr nochmals die Gelegenheit zu geben haben, die mündliche Prüfung abzulegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 3.000 DM festgesetzt.

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