Gericht: Landgericht München I
Entscheidungsdatum: 03.07.2003
Aktenzeichen: 7 O 8786/99
Entscheidungsart: Urteil
eigenes Abstract: Die VG Wort klagt gegen den Autor einer mehrbändigen Autobiografie auf die Rückzahlung von Bibliothekstantiemen, die ihm auf der Grundlage des Verteilungsplans Wissenschaft ausgezahlt wurden. Strittig ist, ob dem Autor ein Pauschalbetrag nach dem Verteilungsplan Wissenschaft zusteht oder ob sich die Auszahlung der Vergütung nach dem Verteilungsplan für belletristische Werke richtet und damit anhand konkreter Ausleih- und Kopiervorgänge in den Bibliotheken berechnet wird. Die Klage der Verwertungsgesellschaft war erfolglos.
Zum Sachverhalt:
Die Kl. ist die VG Wort. Sie begehrt vom Bekl., mit dem sie durch einen Wahrnehmungsvertrag verbunden ist, die Rückzahlung der von ihr an den Bekl. im Hinblick auf dessen mehrbändiges autobiografisches Werk „S erzählt“ in den Jahren 1993 bis 1997 aus dem Bereich Wissenschaft ausgeschütteten Tantieme. Die Kl. macht als Wahrnehmungsgesellschaft die Zweitverwertungsrechte der ihr angeschlossenen Autoren nach § 27 II UrhG (Verleihvergütung) und nach § 54a II UrhG (Betreibervergütung) geltend. Die Ausschüttung erfolgt entweder nach dem Verteilungsplan für belletristische Werke oder nach dem Verteilungsplan Wissenschaft. Die Verteilungspläne sind Bestandteile der jeweiligen Wahrnehmungsverträge. Während die Höhe der im Einzelfall fälligen Ausschüttung nach dem Verteilungsplan Belletristik auf Grund konkreter Erhebungen der Ausleih- und Kopiervorgänge in den einzelnen Bibliotheken berechnet wird, erfolgt eine Ausschüttung nach dem Verteilungsplan Wissenschaft nur durch einen einmaligen Pauschalbetrag und allein auf Grund verschiedener standardisierter Merkmale auf Grund der Angaben der meldenden Autoren. Eine Prüfung im Einzelfall findet auf Grund des Verwaltungsaufwandes nur stichprobenartig und in der Regel nach erfolgter Auszahlung statt. Eine Überwachung der tatsächlichen Ausleih- und Kopiervorgänge unterbleibt. Der hier maßgebliche § 6 des Verteilungsplans Wissenschaft hat gegenwärtig folgenden Wortlaut:
„Eine individuelle Ausschüttung erfolgt für wissenschaftliche und Fachbücher, die in wissenschaftlichen Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland in angemessenem Umfang ausgeliehen werden. Berücksichtigt werden nur Werke, die in mindestens zwei regionalen Verbundsystemen mit mindestens fünf Standorten nachgewiesen sind. Schenkungen werden nicht berücksichtigt“.
In der Praxis wurden – davon abweichend – von der Kl. wissenschaftliche Bücher, Fachbücher und Sachbücher zur Meldung im wissenschaftlichen Bereich zugelassen, mit der Folge, dass z.B. Reiseführer, Hobbybücher und Kochbücher an der Ausschüttung teilnahmen. Das geschäftsführende Vorstandsmitglied der Kl. war in einem Schreiben 1998 sogar der Ansicht, dass am Verteilungsplan Wissenschaft alle „Non-Fiction-Werke“ teilnehmen könnten. Nach einer Entschließung der Kommission Wissenschaft der Kl. vom 10. 4. 1989 sollen dagegen „Werke, deren Inhalt nicht in überwiegendem Maße durch Fakten bestimmt wird oder deren Form erzählend ist“, nicht im Bereich Wissenschaft berücksichtigt werden. Dem Merkblatt für Urheber im wissenschaftlichen Bereich ist ferner zu entnehmen, dass weitere Voraussetzung für eine Vergütung ist, „dass die gemeldeten Publikationen in angemessenem Umfang in wissenschaftlichen und Fachbibliotheken einstehen“. Der Begriff „in angemessenem Umfang“ wurde im maßgeblichen Zeitraum danach bestimmt, dass drei Bibliotheksstandorte gefordert wurden, wobei Pflichtbibliotheken und geschenkte Exemplare keine Berücksichtigung fanden. Eine Ausschüttung kann nur einmalig und nur innerhalb der ersten drei Jahre ab Erscheinen beantragt werden.
Der Bekl. meldete ab 1992 29 Bände (27 fortlaufende Bände Nrn. 1 bis 27 und zwei Sondergaben) seines 40 Bände umfassenden Werks zur Ausschüttung im Bereich Wissenschaft bei der Kl. an und vereinnahmte daraufhin in der Folgezeit Ausschüttungen in Höhe von rund 14000 DM.
Ab Mai 1998 weigerte sich die Kl., Anmeldungen des Bekl. für weitere Bände im Bereich Wissenschaft zu akzeptieren, da die Werke ihrer Meinung nach allesamt der Belletristik und nicht der Wissenschaft zuzuordnen sind.
Die Kl. hat den Bekl. auf Rückzahlung des oben genannten Betrags in Anspruch genommen.
Das LG hat zur Frage, ob die streitgegenständliche Autobiografie dem Bereich „Sachbuch“ zuzuordnen ist, Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens inklusive vier Ergänzungsgutachten, auf die Bezug genommen wird. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass Autobiografien dem Bereich „Sachbuch“ zuzuordnen sind.
Die Klage war vor dem LG erfolglos.
Aus den Gründen:
I. Ein Anspruch der Kl.gem. § 812 I 1 BGB auf Rückzahlung der geleisteten Ausschüttungsbeträge besteht nicht, da die Zahlungen zu Recht erfolgten. Rechtsgrundlage ist der zwischen den Parteien geschlossene Wahrnehmungsvertrag in Verbindung mit dem jeweiligen Verteilungsplan Wissenschaft sowie § 27 II und § 54a II UrhG.
1. Gesetzliche Grundlage für die Erhebung und Ausschüttung der so genannten Bibliothekstantieme sind die Regelungen über die Verleihvergütung in § 27 II UrhG i.V. mit dem WahrnG, da nur Wahrnehmungsgesellschaften die Verleihvergütung für die Urheber geltend machen können. Da sich die exakte Erfassung der vergütungspflichtigen Vorgänge auf Grund des damit einhergehenden Verwaltungsaufwandes regelmäßig verbietet, ist es legitim und von der Rechtsprechung auch anerkannt (BGH, GRUR 1966, 567 569? – GELU), dass Verwertungsgesellschaften die Verteilung ihrer Einnahmen auf Grund pauschalierter und generalisierender, jedoch sachgerechter Kriterien vornehmen.
a) Die für den hier maßgeblichen Zeitraum gültige Verteilungsregelung ist zunächst dem Wortlaut des § 6 Nr. 1 des Verteilungsplans Wissenschaft zu entnehmen, der bis 18. 5. 2001 lautete: „Eine individuelle Ausschüttung erfolgt für wissenschaftliche und Fachbücher, die in wissenschaftlichen Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland in angemessenem Umfang ausgeliehen werden“.
Soweit der Wortlaut dieser Regelung in der bis 1993 geltenden Fassung die Einschränkung „in angemessenem Umfang“ nicht enthielt, ist diese auf Grund einer teleologischen Reduktion jedoch hineinzulesen. Denn es liegt auf der Hand, dass nur Ausleihvorgänge von einigem Gewicht gemeint sein können (vgl. auch Kammer, Urt. v. 16. 9. 1993 – 7 O 19753/92, S. 11 sowie OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 65 66?).
b) Zur Ausfüllung des Begriffs „in angemessenem Umfang“ sowie zur Erfassung der vergütungspflichtigen Werke ist jedoch auch die damalige Verwaltungspraxis der Kl. zu berücksichtigen, soweit diese mit den gesetzlichen Regelungen in Einklang zu bringen ist. Denn die Kl. muss als einzige Verwertungsgesellschaft für Autoren sämtliche Wahrnehmungsberechtigten gleich behandeln. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 3 GG, der hier auch auf das Rechtsverhältnis zwischen der Kl. und dem Bekl. ausstrahlt, sowie aus dem Gebot der Angemessenheit in § 6 I 1 WahrnG (Schricker/Reinbothe, UrheberR, 2. Aufl. 1999?, § 6 WahrnG Rdnr. 13 m.w. Nachw.) sowie dem Willkürverbot des § 7 S. 1 WahrnG.
aa) Wie sich aus dem vorgelegten Protokoll vom 10. 4. 1989 ergibt, hat die Kl. jedenfalls bis 1989 abweichend von dem Wortlaut der oben dargestellten Regelung auch Sachbücher wie z.B. Reiseführer, Hobbybücher und Kochbücher an der Ausschüttung des Bereichs Wissenschaft teilnehmen lassen. Nach einer im Jahr 1998 geäußerten Ansicht eines der Vorstandsmitglieder der Kl. können sogar alle „Non-Fiction-Werke“ an der Ausschüttung des Verteilungsplans Wissenschaft teilnehmen. Im Protokoll vom 10. 4. 1989 soll hingegen die Einschränkung wiederholt worden sein, dass „Werke, deren Inhalt nicht in überwiegendem Maß durch Fakten bestimmt wird oder deren Form erzählend ist“ nicht im Bereich Wissenschaft berücksichtigt werden. In welcher Weise diese Beschlussfassung Eingang in die Wahrnehmungsverträge gefunden haben soll, ist nicht dargetan und auch sonst nicht ersichtlich. Auch eine diesbezügliche Klarstellung oder
Änderung des Verteilungsplans oder der tatsächlichen Handhabung ist nicht ersichtlich, denn unstreitig wies die Kl. in dem hier fraglichen Zeitraum ihre Mitglieder darauf hin, dass auch Sachbücher in der Abteilung Wissenschaft gemeldet werden können.
bb) Diesem Merkblatt ist ferner zu entnehmen, dass vorausgesetzt wird, dass die gemeldeten Publikationen „in angemessenem Umfang in wissenschaftlichen und Fachbibliotheken einstehen“. Der unbestimmte Begriff „in angemessenem Umfang“ wurde im damaligen Zeitraum unstreitig dahingehend verstanden, dass drei Bibliotheksstandorte gefordert wurden, wobei Pflichtbibliotheken und geschenkte Exemplare nicht berücksichtigt wurden. Eine davon abweichende Verwaltungspraxis hat die Kl. nicht vorgetragen.
Soweit sie im Termin die Auffassung vertreten hat, auch für den hier in Rede stehenden Zeitraum könnten nur Bibliotheken berücksichtigt werden, die einem Verbundsystem angeschlossen seien, um den Begriff der angemessenen Nutzung zu bestimmen, findet dies zum einen keine Stütze in den vorstehend erörterten Regelungen des Verteilungsplans und ist zum anderen als bloße Beweiserleichterung dem – hier erfolgreichen – Gegenbeweis zugänglich (OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 65 66?).
cc) Die hier streitgegenständlichen Werke erfüllen allesamt die vorstehend wiedergegebenen Ausschüttungsbedingungen, so dass ein Rückforderungsanspruch nicht besteht. Die autobiografischen Werke sind als Sachbuch einzuordnen. Der erzählende Charakter ändert daran nichts (dazu unter 2). Die Kl. konnte auch nicht den Vortrag des Bekl. widerlegen, dass die Werke in mindestens drei berücksichtigungsfähigen Bibliotheken einstehen (dazu unter 3).
2. Die hier streitgegenständlichen autobiografischen Werke des Bekl. sind in die Kategorie „Sachbuch“, die die Kl. in dem hier fraglichen Zeitraum den „wissenschaftlichen und Fachbüchern“ bei der Anmeldung und Ausschüttung der Bibliothekstantieme gleichgestellt hat, einzuordnen. Dies ergibt sich aus den schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen R, denen die Kammer folgt und die sie sich zu Eigen macht. Das als Parteivortrag zu wertende Gutachten von P ist nicht geeignet, diese Beurteilung in Frage zu stellen.
a) Hinsichtlich des Inhalts der streitgegenständlichen Werke des Bekl. wird zunächst auf die kurze Inhaltsangabe des Gutachtens verwiesen.
b) R hat ausgeführt, dass es keine vom allgemeinen Sprachgebrauch losgelöste, rein literaturwissenschaftliche Definition eines „Sachbuchs“ gebe. Im deutschen Verlagswesen werde insbesondere innerhalb der Bestsellerlisten zwischen „Belletristik“ und „Sachbüchern“ unterschieden, wobei Autobiografien in letztgenannter Spalte aufgeführt werden. Maßgeblich für diese Einordnung ist, dass das Sachbuch den Bezug zum realen Leben betont (non fiction), während belletristische Texte ihren Gegenstand so modellieren, wie er im realen Leben sein könnte (fiction). Der Einwand der Kl., in der „Sachbuchbestenliste“ des Börsenblatts würden Autobiografien nicht aufgeführt, wurde vom Sachverständigen mit konkreten Gegenbeispielen widerlegt.
Ausgehend von dieser Einordnung stellt R fest, dass Autobiografien im Allgemeinen und auch die des Bekl. im Besonderen eine historische, persönlich geprägte Wirklichkeit abbilden. Die vorliegenden Werke befassen sich mit der Kindheit und dem beruflichen Werdegang des Bekl., der unter anderem als Verantwortlicher des M-Verlags maßgeblich an der Verlagsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt hat. Der Inhalt der Werke orientiere sich an „res factae“ und nicht „res fictae“. Diese seien daher von allgemeinen Interesse für eine Phase des deutschen Verlagswesens und seiner Produkte. Denn der Bekl. sei als Verleger zweifelsohne auf seine Weise (neben Theodor Eschenburg, Georg Steiner und Peter Zadek) eine Person der Zeitgeschichte. Der erzählende, an den Leser als „Du“ gewandte assoziative Stil der Werke ändere nach R an der Einordnung als non-fiktionalen Text ebenso wenig etwas wie die für wissenschaftliche Texte angeblich unübliche Gestaltung der Umschläge der einzelnen Bände (bibliophiler Charakter der Aufmachung). Denn die künstlerische Gestaltung des Titelbildes der Umschlagseite werde im Buchwesen allgemein und unabhängig von der Einordnung „Sachbuch“ oder „Belletristik“ generell als Blickfang eingesetzt.
Insbesondere sei die Kommunikationsform des „Erzählens“ kein Privileg des belletristischen Textes. So werde z.B. auch in einem Gerichtsurteil innerhalb des Tatbestands ein Lebenssachverhalt mit dem Stilmittel der Erzählung berichtet, wobei außer Frage stehe, dass Gerichtsurteile nicht dem Bereich der Belletristik zuzuordnen sind. Ähnliche Beispiele ließen sich auch aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft und der Journalistik heranziehen. Das Verb „erzählen“ bezeichne insoweit schlicht die Tätigkeit der Wiedergabe von Realem oder Fiktionalem in Erzähltempora. Dass bei der Wiedergabe von Realem notwendigerweise eine gewisse Auswahl getroffen werden müsse, lasse den Charakter des Wiedergegebenen als nicht fiktional nicht entfallen. Denn sämtliche Gerichtsprotokolle und Zeitungsinterviews bildeten notwendigerweise nur einen bearbeiteten und damit kleineren Teil des tatsächlich Gesprochenen ab. Dies mache diese Texte aber noch nicht zur Fiktion. Dieses Ergebnis werde durch das vorgelegte Personenregister der Bände 1-40 untermauert, denn die Existenz eines solchen Registers sei überaus typisch – wenn auch nicht obligatorisch
* , für Sachbücher, jedoch untypisch für fiktionale Texte.
c) R hat sich auch mit der von der Kl. vorgelegten Ausarbeitung von P befasst. Unabhängig von dessen selektiver Würdigung – Passagen werden nur unvollständig wiedergegeben – und der Frage, ob ihr nicht bereits ein unzutreffender Ausgangspunkt im Sinne einer moralischen Bewertung bezüglich einzelner herausgegriffener Textstellen zu Grunde liegt, ist diese Stellungnahme, die vom Sachverständigen R bereits einer kritischen Würdigung unterzogen wurde, nicht geeignet, die Sichtweise der Kl. zu stützen. Die Tatsache, dass die Werke des Bekl. auch Ausführungen zu dessen und anderer Leute Sexualleben enthalten, nehme diesen nach den sachverständigen Ausführungen nicht die Sachlichkeit bzw. die Eigenschaft als non-fiktional. Auch Biografien anderer großer Künstler enthielten derartig intim geprägte Passagen, ohne dass anzuzweifeln wäre, dass das Beschriebene tatsächlich geschehen und nicht nur erfunden ist.
Abschließend stellt R klar, dass man dem belletristischen Autor zwar den Vorwurf machen könne, er sei ein Pornograf oder er verherrliche Gewalt. Niemals aber könne man ihm vorwerfen, gelogen zu haben. Diesen Vorwurf könne man aber stets dem Autobiografen machen, denn dieser trete mit dem Anspruch an, keine Fiktion zu schreiben und damit zu seiner „kommunikativen Regresspflicht“ zu stehen. Dieses Ergebnis werde auch durch die verschiedenen Angriffe anderer Personen der Zeitgeschichte, die sich gegen einzelne, sie betreffende Aussagen in einzelnen Bänden von „S erzählt“ gewandt haben, belegt.
d) Diese Ausführungen haben die Kammer überzeugt, da sie wohl begründet, gut nachvollziehbar und widerspruchsfrei sind. An der Sachkunde des Gutachters bestehen auf Grund dessen Vita keinerlei Zweifel. Die Kammer macht sich die obigen Ausführungen daher zu Eigen. Ergänzend ist noch auszuführen, dass die Kl. auf Grund des oben geschilderten Willkürverbots darin gehindert ist, unterschiedlich strenge Maßstäbe an die „Wissenschaftlichkeit“ der Werke, die im Rahmen der Ausschüttungen aus dem Verteilungsplan Wissenschaft berücksichtigt werden, zu stellen. Wenn die Kl. Reiseführer, Hobbybücher und Kochbücher als ausreichend „wissenschaftlich“ ansieht, kann sie der vorliegenden Autobiografie des Bekl. eine Teilnahme an der Ausschüttung mangels „Wissenschaftlichkeit“ nicht verweigern (§ 242 BGB).
Widersprüchlich ist diesbezüglich auch, dass die Kl. – was unbestritten geblieben ist – nach wie vor die Verlagstantieme
aus dem Verteilungsplan Wissenschaft für die hier streitgegenständlichen und angeblich nicht wissenschaftlichen Werke an den M-Verlag ausschüttet.
Als Indiz für die vom Sachverständigen bejahte Wissenschaftlichkeit der Werke des Bekl. kann ferner der unwidersprochen gebliebene Vortrag des Bekl., dass die Werke nicht nur in diversen wissenschaftlichen Bibliotheken einstehen, sondern auch mehreren Wissenschaftlern als zeit- und verlagsgeschichtliches Referenzwerk dienen, herangezogen werden.
Im Übrigen kommt es nach der oben beschriebenen Verwaltungspraxis der Kl. nur darauf an, ob die Werke des Bekl. als Sachbuch einzuordnen sind, was aus den obigen Gründen zu bejahen ist. Denn Autobiografien sind, wie der Sachverständige bereits zutreffend ausgeführt hat, per se darauf ausgerichtet, Non-fiktionales zu berichten, und als solche dem Bereich „Sachbuch“ zuzuordnen. Darauf, ob sich einzelne Passagen nicht oder nicht so ereignet haben, kann es für eine Einordnung der Autobiografien als „Sachbuch“ oder „Belletristik“ nicht ankommen. Denn dies würde eine Einzelfallprüfung erfordern, die der aus Kostengründen gebotenen generalisierenden Handhabung widersprechen würde. Daher ist es auch rechtlich unerheblich, ob die Autobiografie einzelne, nicht ernsthafte bzw. pornografische Passagen enthält, solange diese Passagen das Gesamtgepräge als non-fiktionales Werk nicht beeinträchtigen.
Vorliegend ist es der Kl. nicht gelungen darzulegen, dass das Gesamtgepräge der Werke des Bekl. fiktional ist, dass also die Mehrzahl der beschriebenen Sachverhalte erfunden ist. Vielmehr stützt sie ihre Einordnung entscheidend auf das Kriterium des „Erzählens“. Das Merkmal des „Erzählens“ – wie im Gutachten ausführlich dargelegt – ist jedoch kein taugliches Abgrenzungskriterium zur Einordnung eines Werks als „Sachbuch“ oder „Belletristik“. Dass der Beschluss der Kommission Wissenschaft der Kl. vom 10. 4. 1989 mangels Einbeziehung in die Wahrnehmungsverträge bzw. Aufnahme in die Verteilungspläne nicht geeignet ist, irgendwelche Auswirkungen auf das Rechtsverhältnis zwischen der Kl. und dem Bekl. zu zeitigen, wurde bereits oben ausgeführt.
3. Der Bekl. hat dargelegt, dass seine Werke in mindestens drei berücksichtigungsfähigen Bibliotheken einstehen. Die Kammer legt diese äußerst ausführliche und übersichtliche Aufstellung ihrer Entscheidung zu Grunde. Die Kl. vermochte diesen substanziierten Vortrag nicht zu widerlegen.
a) Zwar ist vorliegend von dem Grundsatz, dass derjenige, der sich auf das Vorliegen von anspruchsbegründenden Tatsachen beruft, diese vortragen und im Bestreitensfalle beweisen muss, deswegen eine Ausnahme zu machen, da der Beweis des Nichtvorliegens eines Rechtsgrundes ohne entsprechende Behauptungen des Gegners schwerlich gelingen kann. Vorliegend ist es der Kl. jedoch nicht im Sinne der Rechtsprechung (BGH, NJW 2003, 1039) gelungen, den vom Bekl. ausreichend substanziiert vorgetragenen Rechtsgrund, sprich das Einstehen der Werke in mindestens drei berücksichtigungsfähigen Bibliotheken, auszuräumen. Denn sämtliche Angriffe der Kl. gegen die von dem Bekl. angeführten Standorte greifen nicht durch.
b) Die von der Kl. gerügten Standorte in der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs und dem Sohm-Archiv der Staatsgalerie Stuttgart sind berücksichtigungsfähig.
aa) Zunächst ist bereits nicht einsichtig, warum das „Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv – Handschriftenabteilung“ als Archiv keine berücksichtigungsfähige Bibliothek sein soll, während die Kl. das „Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv – Bibliothek“ unter diesem Gesichtspunkt nicht angreift.
bb) Was unter einer „wissenschaftlichen Bibliothek“ i.S. von § 6 I des Verteilungsplans zu verstehen ist, wird dort nicht erläutert. Der Bedeutungsgehalt ist daher unter Rückgriff auf die Regelungen in § 27 II UrhG zu bestimmen (vgl. hierzu auch OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 65 66 re.Sp.?).
Nach § 27 II 1 UrhG wird auf Einrichtungen (Bibliotheken, Büchereien und Sammlungen) abgestellt, die der Öffentlichkeit zugänglich sind und in denen Bücher ausgeliehen oder vermietet werden (vgl. z.B. Schricker, § 27 UrhG Rdnr. 17a.E.).
cc) Auch die semantische Analyse ergibt nichts anderes. Der Terminus „Bibliothek“ bezeichnet einen Aufbewahrungsort für eine systematisch geordnete Sammlung von Büchern (Duden, Bd. 5, Das Fremdwörterbuch, 5. Aufl. 1990?, S. 112). „Archiv“ bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung einen Raum oder ein Gebäude, in dem Schriftstücke, Urkunden und Akten aufbewahrt werden (Duden, S. 79). Dass in heutiger Zeit die Bestände eines Archivs auch Bücher umfassen, wird durch die nicht bestrittene Tatsache, dass die Werke des Bekl. in den genannten „Archiven“ einstehen, belegt. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, dass auch ein Archiv systematisch organisiert sein muss. Die beiden hier streitgegenständlichen „Archive“ könnten sich demnach ohne weiteres als „Bibliothek“ bezeichnen. Es kommt also nicht darauf an, ob eine Institution das Wort „Bibliothek“ in ihrem Namen führt, sondern nur darauf, ob sie Aufgaben einer Bibliothek wahrnimmt. Somit gibt die Unterscheidung zwischen Einrichtungen, die die Bezeichnung „Bibliothek“ oder „Archiv“ im Namen führen, wie das Beispiel unter Punkt aa) zeigt, für die Frage der Vergütungspflicht nach § 27 II UrhG nichts her. Es ist vielmehr darauf abzustellen, ob die Einrichtung öffentlich sowie wissenschaftlich ist und Bücher i.S. des § 27 UrhG ausleiht.
dd) Dass die Handschriftenabteilung eine der Öffentlichkeit zugängliche Sammlung ist, wird aber auch von der Kl. nicht in Abrede gestellt.
ee) Selbiges gilt für das ebenfalls von der Kl. angegriffene Sohm Archiv der Staatsgalerie Stuttgart. Dass dieses Archiv nur nach telefonischer Voranmeldung genutzt werden kann, lässt weder dessen Eigenschaft als Sammlung i.S. des § 27 II UrhG entfallen, noch bedeutet dies, dass das Archiv nicht der Öffentlichkeit zugänglich ist. Denn es wurde weder vorgetragen noch unter Beweis gestellt, dass das Archiv Sohm nicht jedermann – nach Voranmeldung – offen stehen würde. Dass die interessierten Verkehrskreise über diese Nutzungsmöglichkeit keine Kenntnis haben und deshalb eine relevante Nutzung nicht stattfindet, ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich.
ff) Nach den vorstehenden Ausführungen ist § 6 I des Verteilungsplans Wissenschaft der Kl. dahingehend auszulegen, dass dem Begriff „Bibliothek“ die oben geschilderte materielle Bedeutung beigemessen wird. Andernfalls wäre er mit dem Regelungsgehalt des § 27 II UrhG nicht in Einklang zu bringen.
c) Darauf, ob die von der Kl. im Einzelnen aufgeführten Bibliotheken die Werke des Bekl. in der Fernleihe führen oder nur im Präsenzbestand halten bzw. ein gemischtes System walten lassen, kommt es nicht an, da die Vergütungspflicht gem. § 27 II UrhG auch bei Ausleihvorgängen in ausschließlichen Präsenzbibliotheken greift. Diese Rechtsfrage wurde, soweit ersichtlich, noch nicht höchstrichterlich entschieden. Aus den nachfolgenden Überlegungen ergibt sich jedoch, dass auch Ausleihen in Präsenzbibliotheken als i.S. des § 27 II UrhG vergütungspflichtig anzusehen ist:
aa) Als Verleihen i.S. von § 27 II 1 UrhG wird gem. S. 2 die zeitlich begrenzte, weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienende Gebrauchsüberlassung definiert. Dabei sind die Begriffe „Verleihen“ (bzw. „Vermieten“) nicht streng nach den jeweiligen Vorschriften des BGB auszulegen, so dass auf das Fehlen des alleinigen unmittelbaren Besitzes beim Nutzer einer Präsenzbibliothek nicht abgestellt werden
kann. Vielmehr sind die beiden Begriffe im Sinne des Grundgedankens des Urheberrechts so auszulegen, dass jedem Urheber eine angemessene Vergütung für alle Nutzungen seiner Werke zukommt. Es ist also darauf abzustellen, ob die Gebrauchsüberlassung eine uneingeschränkte und wiederholbare Werknutzung ermöglicht, mit der Folge, dass der Kauf eines eigenen Vervielfältigungsstückes vielfach unterbleiben wird (vgl. BGH, GRUR 1989, 417 419? – Kauf mit Rückgaberecht; BGHZ 92, 54 60f.? = GRUR 1985, 134 – Zeitschriftenauslage in Wartezimmern).
Dies ist jedenfalls bei wissenschaftlichen Präsenzbibliotheken der Fall. Denn der an wissenschaftlichen Werken interessierte Nutzer kann auch in den Räumen einer Präsenzbibliothek uneingeschränkt auf das von ihm gesuchte Werk zugreifen und, soweit er dafür mehrere Tage benötigt, jeden weiteren Tag erneut das Werk aus dem Regal entnehmen. Damit entfällt für den Nutzer das Bedürfnis, das wissenschaftliche Werk selbst zu erwerben; dem Urheber entgehen dadurch Einnahmen. Die wirtschaftlichen Interessen des Urhebers verlangen daher, dass er auch an dieser Form der Gebrauchsüberlassung beteiligt wird (Spautz, in: Möhring/Nicolini, 2. Aufl. 2000?, § 27 UrhG Rdnr. 10; Fromm/Nordemann, UrheberR, 9. Aufl. 1998?, § 27 Rdnr. 4; Erdmann, in: Festschr.f. Brandner, 1996, S. 361 367? m.w. Nachw.).
bb) Soweit die Gegenmeinung (Schricker/Loewenheim, § 27 UrhG Rdnr. 16; a.A. noch in der 1. Aufl., § 27 Rdnr. 6; Wandtke/Bullinger/Heerma, UrheberR, 2002, § 27 UrhG Rdnr. 11) unter Hinweis auf die ab 1. 7. 1994 geltenden Vermiet- und Verleihrichtlinie Richtlinie 92/100/EWG v. 19. 11. 1992 – GRUR Int 1993, 144) abstellt, kann dem zitierten Erwägungsgrund 13 nicht entnommen werden, dass die Einsichtnahme an Ort und Stelle vom Begriff des Vermietens bzw. Verleihens im Sinne der Richtlinie ausgeschlossen wird. Vielmehr heißt es dort, „der Klarheit halber ist es wünschenswert, von ‚Vermieten‘ und ‚Verleihen‘ im Sinne dieser Richtlinie bestimmte Formen der Überlassung, z.B. die Überlassung von Tonträgern und Filmen … zur Einsichtnahme an Ort und Stelle auszuschließen.“ Bereits der beispielhaften Aufzählung von Tonträgern und Filmen kann entnommen werden, dass der EU-Gesetzgeber dieses Problem nicht selbst lösen, sondern die Lösung des von ihm erkannten Auslegungsproblems den Mitgliedstaaten überlassen wollte. Andernfalls hätte er die einzelnen Ausnahmen entweder in den Erwägungsgründen oder in den einzelnen Bestimmungen der Richtlinie selbst einer konkreten Lösung zugeführt. Der fragliche Passus kann mangels konkreten Regelungsgehalts somit keine unmittelbare Rechtsgeltung beanspruchen. Er ist eine schlichte Anregung an die Mitgliedstaaten.
Da diese Anregung des EU-Gesetzgebers vom deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie nicht aufgenommen wurde – § 27 II UrhG blieb unverändert (Schricker/Loewenheim, § 27 UrhG Rdnr. 2) – und der Erwägungsgrund 13 mangels entsprechender konkreter Vorgaben auch eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Bestimmungen nicht gebietet, verbleibt es bei dem oben gefundenen Ergebnis (so auch Erdmann, S. 369). Eine differenzierte Betrachtung für die Zeiträume vor In-Kraft-Treten und nach In-Kraft-Treten der Richtlinie ist daher nicht veranlasst.
cc) Darauf, ob die einzelnen vom Bekl. aufgeführten Bibliotheken tatsächlich Kopierabgaben (in Präsenzbibliotheken werden gerichtsbekannt umfangreich Kopien angefertigt) oder Bibliothekstantiemen an die Kl. abführen, kommt es nicht an, da insoweit Pauschalverträge mit dem Bund und den Ländern abgeschlossen wurden (Spautz, in: Möhring/Nicolini, § 27 UrhG Rdnr. 16).
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