Gericht: Amtsgericht Rheinberg
Entscheidungsdatum: 02.05.1991
Aktenzeichen: 11 C 772/90
Entscheidungsart: Urteil
eigenes Abstract: Eine Stadtbibliothek verlangt von einem Jugendlichen die Rückgabe der ausgeliehenen Medien und zusätzlich Schadensersatz. Der Beklagte behauptet, ihm wäre sein Benutzerausweis gestohlen worden. Den Verlust habe er erst spät bemerkt. In der Zwischenzeit sind Medien auf seinem Ausweis verbucht worden. Die Bibliothek kann vom Minderjährigen eine Ersatzbeschaffung der Medien verlangen, ein Anspruch auf Schadenersatz in Geld wird vom Amtsgericht abgelehnt.
Tatbestand:
Die klagende Stadt unterhält eine öffentliche Bibliothek. Die vom Stadtrat erlassene Benutzungsordnung enthält u.a. folgende Bestimmungen:
„§ 1 Die Stadtbücherei ist eine öffentliche Einrichtung der Stadt K.; die Benutzung richtet sich nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. …
§ 4 (1) Gegen Vorlage des Benutzerausweises werden Medien aller Art unentgeltlich ausgeliehen…
(7) Die Leihfrist beträgt vier Wochen; sie kann vor Ablauf auf Antrag um vier Wochen verlängert werden, wenn keine Vormerkung für einen anderen Benutzer vorliegt; …
(8) Die Leihfrist kann durch die Stadtbücherei verkürzt werden. …
§ 5 … (6) Für den Verlust oder die Beschädigung von ausgeliehenen Medien hat der Benutzer Ersatz zu leisten. Als Ersatz gilt bei Verlust oder bei einer die Benutzung beeinträchtigenden Beschädigung in erster Linie die Ersatzbeschaffung durch den Benutzer. Kann kein Ersatz beschafft werden, trifft an die Stelle der Ersatzbeschaffung eine Geldleistung in Höhe des Neuwertes.
(7) Für Schäden, die durch Missbrauch des Benutzerausweises entstehen, haftet der eingetragene Benutzer. Bei Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr haftet der gesetzliche Vertreter. …
§ 7 Es werden folgende Entgelte erhoben:
… 2. für das Überschreiten des Leihfrist
je Gegenstand und angefangene Woche DM 1,-“
Von der nach § 7 der Benutzungsordnung möglichen Berechnung macht die Klägerin bei längeren Leihfristüberschreitungen keinen Gebrauch. Nach ihrer ständigen Praxis muss ein säumiger Benutzer im Höchstfall nur DM 4,- je Medium zahlen.
Am 12.6.1990 wurden auf den Benutzerausweis des am 18.10.1975 geborenen, bei seiner Mutter lebenden Beklagten 16 Medien im Gesamtwert von DM 538,70 ausgeliehen. Diese hat die Klägerin bis heute nicht zurück erhalten. Wegen der Rückgabe hat sie den Beklagten am 23.7., 30.7. und 6.8.1990 gemahnt und schließlich mit am 30.11.1990 zugestellten Schriftsatz Klage erhoben.
Die Klägerin behauptet, der Beklagte habe die 16 Medien ausgeliehen. Ferner sei eines der Medien, eine Compact Disk, für die grundsätzlich eine verkürzte Leihfrist von zwei Wochen gelte, einmal verspätet verlängert worden, wofür ein Entgelt von DM 2,- anfalle.
Sie beantragt, den Beklagten zu verurteilen,
1) a) ihr die 16 Medien (…) herauszugeben
2) b) an sie DM 66,- nebst 4% Zinsen seit dem 30.11.1990 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er behauptet, die Medien nicht entliehen zu haben. Ihm sei sein Benutzerausweis kurz vor den Sommerferien (15.6.-31.7.1990) gestohlen worden. Den Verlust habe er erst nach der Rückkehr von einer Fernreise bemerkt und sofort der Klägerin gemeldet.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und mit dem Antrag zu 1) begründet. Mit dem Antrag zu 2) hat die Klägerin hingegen keinen Erfolg.
1. Für den Rechtsstreit besteht die Zuständigkeit des Amtsgerichts. Denn gem. § 1 der Benutzungsordnung richtet sich das Benutzerverhältnis nach den Vorschriften des BGB. Eine solche privatrechtliche Ausgestaltung des Benutzerverhältnisses einer Anstalt öffentlichen Rechts steht der Verwaltung offen und hat zur Folge, dass für dabei entstehende Streitigkeiten der Rechtsweg zu den Zivilgerichten gegeben ist.
Auch die Klageanträge sind nicht zu beanstanden. Insbesondere stellen die Anträge zu 1) und 2) keine unzulässige Alternativklage dar. Bei dem hilfsweise geltend gemachten Schadenersatzbegehren handelt es sich um einen unechten Hilfsantrag, der nicht erst bei Abweisung des Hauptantrags prozessual wirksam wird, sondern gerade dessen Zusprechen voraussetzt. Die Zulässigkeit einer derartigen Antragskombination ergibt sich aus § 283 BGB.
2. Der im Klageantrag zu 1a) geltend gemachte Herausgabeanspruch steht der Klägerin gemäß § 604 BGB zu. Der Beklagte hat die in § 4 der Benutzungsordnung statuierte vierwöchige Leihfrist weit überschritten.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob er überhaupt in der Lage ist, die Medien herauszugeben. Die Tatsache, dass diese auf seinen Benutzerausweis verbucht sind, spricht zunächst für seinen Besitz. Der Klägerin muss daher rechtlich die Möglichkeit eröffnet werden, sich mittels eines Herausgabetitels in der Zwangsvollstreckung davon zu überzeugen, dass der Beklagte wirklich nicht im Besitz der 16 Medien ist.
Das Gericht brauchte über diese Frage nicht schon im Erkenntnisverfahren Beweis zu erheben. Der Unvermögenseinwand des Schuldners stellt nämlich dann keine erhebliche Verteidigung dar, wenn klar ist, dass er das Leistungshindernis selbst zu vertreten hat (st. Rspr. seit RGZ 54, 28, 31 ff.).
Eine solche Verantwortlichkeit des Beklagten liegt hier vor. Denn er haftet selbst dann, wenn sein Vorbringen zutritt, dass die Medien unter Missbrauch seines Ausweises von einem Dritten entliehen worden. Dies ergibt sich aus § 5 (7) der Benutzungsordnung. Die dort statuierte verschuldensunabhängige Haftung hält einer rechtlichen Prüfung stand. Rechtssprechung und Rechtslehre halten überwiegend eine solche vorn Verschuldensprinzip des BGB abweichende verschärfte Haftung beim Leihvertrag im Lichte der §§ 157, 242 BGB für ausnahmsweise zulässig. Denn die Leihe stellt allein für den Entleiher einen Vorteil dar. Dann aber entspricht es der Billigkeit und durchaus auch den Anschauungen des sozialen Lebens, dass der Entleihende den Verleiher auch bei unverschuldetem Verlust eines Buches selbst schadlos halten muss (LG Aachen, NJW 52, 426; umfassend Kirchner, Zur Frage der Ersatzleistung durch Benutzer bei Verlust oder Beschädigung eines Buches. Gutachten, erstattet im Auftrag der Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksinstituts. In: AG für juristische Bibliotheks- und Dokumentationswesen. Mitteilungen 13 [1983] 1-5). Mit Recht verweist die Klägerin in diesem Zusammenhang auf die gleich gelagerte Problematik beim Scheckkartenmissbrauch. Auch hier hat die Rechtsprechung die verschuldensunabhängige Haftung des Bankkunden nicht beanstandet, weil der Missbrauch mehr in die Verantwortungssphäre des Kunden fällt (LG Saarbrücken, MM 88, 377; LG Duisburg, WM 89, 181).
Im übrigen verstößt der § 5 (7) der Benutzungsordnung, soweit er für Minderjährige bis zum 15. Lebensjahr eine Haftung des gesetzlichen Vertreters vorsieht, gegen § 11 Nr. 14 des AGB-Gesetztes. Einwilligung oder Genehmigung in die Aufnahme von Benutzungsbeziehungen zwischen Minderjährigen und Bibliothek durch den gesetzlichen Vertreter machen diesen nicht zum Vertragspartner. Soll er für Pflichtverletzungen des Minderjährigen einstehen, muss die Bibliothek ihn zur Übernahme einer Bürgschaft oder zum Schuldbeitritt veranlassen (Kirchner/Wendt, Bibliotheksbenutzungsordnungen [Berlin 1990] 108-109).
3. Die Begründung für das Zusprechen des Klageantrags zu 1 b) ergibt sich aus § 339 BGB i.V.m. § 7 Nr. 2 der Benutzungsordnung.
Die Verpflichtung nach § 7 der Benutzungsordnung, bei nicht rechtzeitiger Erfüllung der leihvertraglichen Rückgabepflicht pro Medieneinheit für jede überzogene Woche DM 1,- zu zahlen, ist rechtlich als Vertragsstrafe i.S.v. § 339 BGB zu qualifizieren. Der Gültigkeit dieser Bestimmung steht § 11 Nr. 6 AGBG nicht entgegen. Diese Vorschrift verbietet formularmäßige Vertragsstrafeversprechen nur für den Fall des Zahlungsverzuges, nicht aber für den des sonstigen Leistungsverzuges (vg. Kirchner/Wendt, a.a.O., 170).
Diese Vertragsstrafe wurde durch den Ablauf der Leihfrist sowie in einem Fall zusätzlich durch eine verspätete Verlängerung wirksam ausgelöst. Dass der Beklagte dies zu vertreten hat, ergibt sich aus den obigen Ausführungen zu seiner Einstandspflicht für die Folgen auch eines Ausweismissbrauchs.
Der Anspruch ist auch der Höhe nach gerechtfertigt, wenn man die von der Klägerin zugunsten der Benutzer geübte Praxis zugrunde legt.
4. Mit dem Klageantrag zu 2) hat die Klägerin keinen Erfolg, da ihr eine Schadenersatzleistung in Geld nicht zusteht.
Die Klägerin geht zunächst mit Recht davon aus, dass sie gem. § 283 BGB hilfsweise schon jetzt einen Schadenersatzanspruch für den Fall dass der Beklagte die primär geschuldete Herausgabe nicht erbringt, einklagen kann. Aber dieser Schadenersatzanspruch unterliegt in seiner Abwicklung den vertraglichen Vereinbarungen, also der Benutzungsordnung, und den gesetzlichen Bestimmungen der §§ 249 ff. BGB. Mit diesen ist der konkrete, auf sofortige Geldleistung gerichtete Antrag der Klägerin nicht in Einklang zu bringen.
Nach § 5 (6) der Benutzungsordnung kann die Klägerin nämlich von Beklagten in erster Linie Ersatzbeschaffung verlangen. Die Alternative eines sofortigen Übergangs zum Geldersatzanspruch sieht die Benutzungsordnung hingegen nicht vor, sondern reserviert diesen in § 5 (6) 3 ausdrücklich für den Fall der Unmöglichkeit der Ersatzbeschaffung. Der Vortrag der Klägerin gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die 16 Medien nicht wieder beschafft werden können.
Auf die gesetzlichen Fälle eines direkten Geldersatzanspruchs kann sich die Klägerin ebenfalls nicht stützen. § 249 S. 2 BGB ist schon vom Wortlaut her nicht einschlägig. Die in § 251 I BGB vorausgesetzte Unmöglichkeit der Ersatzbeschaffung liegt nach den obigen Ausführungen nicht vor. Der Mindermeinung in der Rechtslehre, die die Schadensregulierung bei gebrauchten Sachen grundsätzlich nach dieser Vorschrift abwickeln will, weil eine solche Sachen niemals in genau demselben abgenutzten Zustand wieder beschafft werden kann, ist nicht zuzustimmen (vg. Thilo, Die Schadenersatzleistung des Bibliotheksbenutzers. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 31 [1984] bes. 239-240 m.w.N.). Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass der schadenersatzpflichtige Benutzer antiquarisch ein Buch erwirbt, dessen Abnutzungsgrad im wesentlichen dem des verlorenen entspricht. Sollte dies nicht möglich sein, kann er immer noch ein neuwertiges Buch beschaffen und dessen Mehrwert im Wege des allgemeinen schadensrechtlichen Abzugs „neu für alt“ geltend machen.
Auch ein Fall des § 251 II BGB liegt nicht vor. Die Wiederbeschaffung von 16 Medien über den Buch- und Schallplattenhandel ist mit keinen unverhältnismäßigen Aufwendungen des Beklagten verbunden.
Schließlich hat die Klägerin auch keine Tatsachen vorgetragen, die ihr rechtlich einen Anspruch auf Ersatz in Geld nach § 250 BGB verschaffen.
Nach der gegebenen Rechtslage bleibt der Klägerin somit allein der Anspruch auf Ersatzbeschaffung durch den Beklagten. Dieses Ergebnis erscheint auch durchaus angemessen, wenn man sich den Sinn des Schadenersatzrechts vor Augen hält, die konkrete Einbuße des Geschädigten auszugleichen. Denn nur die Ersatzbeschaffung kommt auch wirklich der geschädigten Bibliothek zugute, während der Geldersatz wegen der haushaltsrechtlichen Trennung von kommunaler Bibliothek und öffentlicher Kasse nicht automatisch dem Erwerbungstitel der Bibliothek zufließt; damit bleibt aber offen, ob es zum Ausgleich des der Öffentlichkeit in ihrem Anspruch auf angemessenen Literaturversorgung entstandenen Schadens verwendet wird.
Das Gericht verkennt allerdings nicht, dass gerade bei größeren Schadensfällen der Weg über einen direkten Geldersatzanspruch der Bibliothek im Vergleich zu Ersatzbeschaffung durch Bibliotheksbenutzer der ökonomisch sachgerechtere ist. Denn die Bibliothek ist ist viel leichter imstande, die Wiederbeschaffung durchzuführen. Sie verfügt über die notwendigen Geschäftsbeziehungen zu Buchhändlern und Antiquariaten, sie kann dabei den Bibliotheksrabatt von i.d.R. 10% in Anspruch nehmen und ihr fällt es im Zweifel auch leichter, im Falle eines vergriffenen Werkes eine Ersatzkopie bei einer mit ihr über die Leihverkehrskooperation verbundenen Bibliothek zu beschaffen. Diese mit praktischen Erwägungen ändern allerdings nichts daran, dass, wenn eine rein finanzielle Schadensregulierung als sinnvoller erachtet wird, die Bibliothek bzw. ihr Unterhaltsträger hierfür die rechtlichen Grundlagen schaffen müssen.